Wir machen das
In Kanada werden Flüchtlinge nicht nur von der Regierung unterstützt, auch Bürgergruppen können für ein Jahr die Betreuung einer Familie übernehmen
Im Sommer 2015, als sich die Kanadier an Seen und in Freibädern vergnügten, lieferten die Nachrichten Bilder der Verzweiflung von der anderen Seite der Welt: Boote voller Flüchtlinge, die auf den Wellen des Mittelmeers schaukelten, menschliche Überreste, die an die Küsten gespült wurden. Es war fürchterlich, aber lag fern. Diese Wahrnehmung veränderte sich am 2. September. Mit dem Foto des dreijährigen Alan Kurdi, der mit dem Gesicht im Wellenschaum einer türkischen Küste lag. Alan und seine Familie waren aus der kurdischen Stadt Kobane geflohen. Sie hatten ihre Leben einem Schleuser und seinem überladenen Boot mit dem Ziel Griechenland anvertraut. Als es kippte, ertranken Alan, sein fünfjähriger Bruder und die Mutter. Nur Alans Vater Abdullah überlebte und erzählte, dass ihr Ziel Kanada gewesen sei, wo seine Schwester lebt. Einige Monate zuvor hatten die kanadischen Einwanderungsbehörden Kurdis Ersuch um Asyl abgelehnt, doch aus Mangel an Alternativen wollten sie es trotzdem versuchen.
Die Stimmung in Kanada änderte sich. Die Kritik an der Reaktion des Premierministers Stephen Harper auf die Flüchtlingskrise wurde lauter. Von den 11.300 syrischen Flüchtlingen, die er nach Kanada bringen wollte, waren lediglich 2.500 angekommen. Harper versprach - kurz vor einer möglichen Wiederwahl stehend -, noch einmal 10.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen.Als die Gesamtzahl der syrischen Flüchtlinge auf vier Millionen anstieg, erschien Harpers Angebot lächerlich: ein Schmutzfleck für ein Land, das stolz ist auf seinen weltweiten Ruf in Sachen Friedenssicherung und Humanismus. Harpers Hauptrivale im Wahlkampf, Justin Trudeau, versprach, im Falle eines Wahlsiegs bis Ende 2015 25.000 syrische Flüchtlinge nach Kanada zu bringen.
Mehr und mehr Kanadier sprachen über privates Sponsoring, ein Programm, das es so nur in Kanada gibt. Es befähigt Bürger, Flüchtlinge über die staatliche Hilfe hinaus zu unterstützen. Mit diesem Konzept war ich vertraut, da ich mit einer Großmutter aufgewachsen war, die in ihrem Zuhause auf dem Land oft Besuch hatte von vietnamesischen "Freunden". Erst später verstand ich, dass es sich bei diesen Menschen um "Boatpeople" handelte, die von der Friedensgruppe meiner Großmutter unterstützt worden waren.
Als die Krise in Südostasien in den späten 1970er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte, ergriffen Kanadier - sich der schändlichen Geschichte ihres Landes bewusst, das in den 1930er-Jahren Juden abgewiesen hatte - die Initiative: Sie machten sich eine wenig bekannte Ergänzung zum kanadischen Einwanderungsgesetz zunutze, die es Organisationen oder Gruppen von mindestens fünf Personen erlaubte, Flüchtlinge privat zu unterstützen.
Von den 60.000 vietnamesischen Flüchtlingen, die seit 1979 innerhalb von 18 Monaten nach Kanada kamen, wurden 34.000 privat unterstützt. Die Tradition wurde fortgeführt: Seit 1979 wurde rund ein Drittel der Flüchtlinge, die in Kanada ankamen, privat gefördert. Ein Grundprinzip des kanadischen Flüchtlingssystems ist dabei: Die Regierung nimmt sich der kritischsten Fälle selbst an und führt die Flüchtlinge mit guten Erfolgsaussichten den privaten Sponsoren zu.
Mitte September fragte mich ein Freund, ob ich daran interessiert sei, einer Sponsorengruppe beizutreten. Innerhalb von zwei Wochen hatte unsere Gruppe 14 Mitglieder, hauptsächlich Mütter mit Kindern in der Schule vor Ort. Niemand von uns hatte so etwas je getan, aber wir waren uns alle einig, dass es machbar war.
Der erste Schritt bestand darin, mit einem sogenannten Sponsorship Agreement Holder zu kooperieren, einer Organisation, die bereits eine Genehmigung vom kanadischen Einwanderungsministerium hat, Flüchtlinge zu unterstützen. Unsere Gruppe, die im Wesentlichen säkular war, aber auch Mitglieder mit muslimischem, jüdischem und hinduistischem Hintergrund hatte, tat sich mit einer lokalen anglikanischen Gemeinde zusammen.
Als Nächstes mussten wir Gelder sammeln, um eine Familie für ein Jahr unterstützen zu können. Das Minimum für ganz Kanada betrug 25.000 Dollar für eine Familie mit vier Mitgliedern, aber in Toronto, der zweitteuersten Stadt des Landes, lag das Minimum bei 40.000 Dollar. Zusätzlich mussten alle Mitglieder unserer Gruppe ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und in der Gemeinde an einem dreistündigen Trainingsprogramm teilnehmen.
Ich staunte, wie schnell sich alles entwickelte. Innerhalb von zwei Monaten hatten wir alle notwendigen Hürden überwunden und - in unserem weiteren Bekanntenkreis - über 50.000 Dollar aufgetrieben. Anfang Dezember reichten wir unsere Bewerbung ein. Darin konnten wir grob beschreiben, welche Art von Familie wir wollten: bis zu sechs Mitglieder, aus dem Nahen Osten und ohne ernste gesundheitliche Probleme. Dann begann das Warten.
Aus Wochen wurden Monate. Im Februar begann die Kirche damit, uns "Angebote" für mögliche Familien zu schicken mit Informationen zu ihrem Standort und der Dringlichkeit ihres Falls sowie zu Alter, Ausbildung und Berufserfahrung der Familienmitglieder. Wir lernten, dass wir rasch reagieren mussten, da wir mit anderen Sponsorengruppen konkurrierten. Am Ende wurde uns die Familie Ali zugeteilt, Syrer, die in Saudi-Arabien lebten: ein studiertes Paar mit drei Töchtern unter neun Jahren. "Ich kann keine Worte finden, um meinen Dank auszudrücken an Sie und jeden, der mithalf, dass wir uns in Kanada niederlassen und ein neues Leben beginnen können", schrieb Hassan, der Vater, in seiner ersten E-Mail an uns. Ihr Englisch war offenbar gut.
Dank seiner geografischen Lage kann Kanada Flüchtlinge im Ausland aussuchen und genauer prüfen. Nachdem er Harper als Premierminister abgelöst hatte, schickte Justin Trudeau zusätzliches Personal in den Nahen Osten, um die Bearbeitungszeit zu beschleunigen.Sobald aber sein Wahlversprechen, 25.000 Flüchtlinge aufzunehmen (von denen rund 9.000 privat unterstützt wurden), eingelöst war, wurde das Extrapersonal zurückgerufen und die Bearbeitungszeiten verlangsamten sich. Es dauerte Monate, bis die Familie Ali ihre Befragungen, Sicherheits- und Gesundheitschecks mit den kanadischen Behörden in Saudi-Arabien hinter sich gebracht hatte. Ein Jahr nachdem sich unsere Sponsorengruppe gebildet hatte, landete die Familie Ali in Toronto: mit elf Koffern, funktionierenden Mobiltelefonen und überschwänglicher Dankbarkeit. Mehrere Mitglieder unserer Gruppe standen am Flughafen, um sie zu begrüßen. In einem geliehenen Lieferwagen wurde die Familie zu der Wohnung gebracht, die wir für sie in einem Vorort von Toronto gefunden und eingerichtet hatten.
Sobald sie auf kanadischem Boden landen, werden privat unterstützte Flüchtlinge automatisch zu langfristig Aufenthaltsberechtigten - mit Anspruch auf medizinische Versorgung, Bildung und staatliche Unterstützung sowie einen direkten Weg zur kanadischen Staatsbürgerschaft. Die ersten Tage mit der Familie Ali verbrachten wir mit Formalitäten und Besuchen bei der Bank, der örtlichen Klinik und Schule. Innerhalb von drei Tagen besuchten die Kinder die Schule und ihre Eltern waren in Kursen für Business English eingeschrieben. Innerhalb von Monaten hatte Hassan in seiner Branche - Computer Networking - einen Vertrag über sechs Monate und seine Frau Muna arbeitete darauf hin, Lehrerin für Englisch als Zweitsprache zu werden.
Obschon sehr viel logistische und bürokratische Arbeit erledigt werden muss, sind informelle Zusammenkünfte ebenso wichtig. Wir veranstalteten Picknicks im Park, gingen bowlen und eislaufen und aßen oft zusammen in unseren Häusern. Wie immer war Essen die große verbindende Kraft. Die Familie Ali ist außergewöhnlich zielstrebig, aufgeschlossen und zukunftsorientiert. Sie sprechen nicht oft über das, was sie zurückgelassen haben.
Kanadier sind damit gesegnet, in einem Land ohne Krieg und Hunger zu leben. Für diejenigen unter uns, die sich von dem Horror in anderen Teilen der Welt gelähmt fühlen, bietet das Sponsoring eine Möglichkeit, etwas zu tun. Es ist eine kleine Geste, aber auf ihre Art sehr bedeutungsvoll. Sie öffnet uns die Augen für den Prozess des Ankommens, des Niederlassens und der Integration, der für die Geschichte - und Zukunft - unseres Landes so grundlegend ist.
Aus dem Englischen von Carmen Eller