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Mut zur Pleite

Als einziger Staat weigerte sich Island während der Finanzkrise 2008, seine Banken zu retten. Ein kluger Schachzug

Island war das erste Opfer der globalen Finanzkrise von 2008. Fast das gesamte Bankensystem wurde innerhalb weniger Tage liquidiert, und das Parlament verabschiedete eine Notfallgesetzgebung. Es ist bemerkenswert, wie gut sich das Land seitdem erholt hat: Die Wirtschaftsleistung liegt derzeit zehn Prozent über dem vor der Krise erreichten Höchstwert. Um das zu schaffen, musste Island einige unkonventionelle Maßnahmen ergreifen.

Islands Bankensystem war vor der Bankenkrise sprunghaft gewachsen, weil es kurz zuvor privatisiert worden war und globale Geldmittel reichlich vorhanden waren. Durch die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt hatten die isländischen Banken günstige Bedingungen, und ihr Vermögen wuchs – während sich das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2003 schon verdoppelte wuchs es im Jahr 2008 auf das Zehnfache. Der Großteil dieses Wachstums stammte aus internationalen Geschäften, weil die isländischen Banken strategisch in den europäischen Finanzsektor investiert hatten. Noch im Juni 2008 bezeichnete der Internationale Währungsfonds Islands wirtschaftliche Aussichten als »beneidenswert«; nur wenige Monate später jedoch sollte sich das Land mit der größten Herausforderung seit der Gründung der Republik konfrontiert sehen.

Weil Island zwar dem europäischen Wirtschaftsraum angehört, aber weder EU-Mitglied noch Mitglied der Währungsunion ist, konnte es nicht auf Mittel der Europäischen Zentralbank zurückgreifen. Infolgedessen gab es keinen Lender of last resort, keinen »Kreditgeber letzter Instanz«, der das isländische Bankensystem mit Devisen hätte versorgen können.

Ein paar Tage nach der Zahlungsunfähigkeit von Lehman Brothers hatte eine von Islands Banken Zahlungsschwierigkeiten, und die Regierung versuchte, ihr finanziell unter die Arme zu greifen. Wie sich bald zeigen sollte, war dies eine gigantische Herausforderung, denn nur wenige Tage später gerieten auch andere systemrelevante Banken in schwerwiegende Zahlungsschwierigkeiten und die Währungsreserven waren zu klein, um glaubwürdige Kredite letzter Instanz bereitzustellen.

In den Augen der wichtigsten Entscheidungsträger Islands handelte es sich bei der Bankenkrise um eine Krise des privaten Sektors und nicht um eine Staatskrise. Der einzige gangbare Weg für die Republik Island war der, die Staatskasse abzuschotten, sozusagen einzuzäunen; andernfalls würde der Staat untergehen, so wie das Bankensystem untergegangen war. Es gab ein klares Mandat dafür, dass der Staat die Kosten der Bankenkrise nicht auf die Allgemeinheit abwälzen dürfe. Nachdem alle infrage kommenden Optionen geprüft worden waren, wurde daher mit überparteilichem Konsens eine Notfallgesetzgebung verabschiedet, und alle drei systemrelevanten Banken wurden liquidiert. Das heißt, die Regierung übernahm die Geschäfte der Banken, indem sie Auflösungskomitees einsetzte. Der kolossale internationale Zahlungsausfall auf dem Privatsektor des Bankensystems war ein verheerender Schlag für so eine kleine Wirtschaft. Die kombinierte Zahlungsunfähigkeit der isländischen Banken war einer der größten Fälle von Zahlungsunfähigkeit in der Geschichte, übertroffen nur noch von der Insolvenz von Lehman Brothers. Island war der erste westliche Staat seit Großbritannien (im Jahr 1978), der einem Hilfsprogramm des Internationalen Währungsfonds beitrat.

Privathaushalte und Unternehmen waren nach dem Zusammenbruch des Bankensystems ebenfalls hoch verschuldet. Die Regierung verfügte Schuldenerlasse sowohl für Unternehmen als auch für Privathaushalte. Internationale Konflikte waren eine der negativen Folgen des Zusammenbruchs des Bankensystems. Der gravierendste Konflikt war jener mit den Regierungen von Großbritannien und den Niederlanden bezüglich der sogenannten Icesave-Sparkonten. Dabei handelte es sich um Sparkonten bei Filialen isländischer Banken in Großbritannien und den Niederlanden mit Guthaben in den jeweiligen Landeswährungen. Auf dem Höhepunkt der Krise gab es einen Ansturm auf die Sparguthaben, und die britischen und niederländischen Regierungen entschädigten die Einzahler, aber verlangten anschließend eine Erstattung dessen, was sie als staatliche Verbindlichkeiten der isländischen Regierung betrachteten. Die Regierung von Großbritannien nahm die Angelegenheit so ernst, dass sie die Zentralbank von Island ein paar Tage lang auf ihre Liste von Terroristen setzte. Die isländische Regierung vertrat die Auffassung, der Staat sei für die Rückzahlung  der Guthaben nicht zuständig, weil sie von privaten Banken verwaltet wurden. Schließlich ging Island als Sieger aus dem Streit hervor. Die in Konkurs gegangenen Banken mussten mit ihrer Konkursmasse für die Auszahlung der Guthaben – mitsamt Zinsen – an die Einzahler aufkommen. Es war entscheidend, dass Island immer konsequent zu seiner Auffassung stand, einheimischer Widerstand war rar. Es gab zwei Referenden zu diesem Thema, beide mit dem Ergebnis, dass der Staat nicht für die Schulden von Icesave aufkommen müsse.

Aus Islands Fallbeispiel kann man einige Lehren ziehen: Die erste Erkenntnis ist die, dass ein Staat angesichts beispielloser Umstände mitunter zu unkonventionellen Mitteln greifen muss. Es war notwendig, eine Grenze zwischen staatlichen und privaten Zahlungsverpflichtungen zu ziehen, also sich zu weigern, die Kosten auf die Bevölkerung abzuwälzen, und auch nach der Krise zu dieser Weigerung zu stehen. Eine große Herausforderung, denn die Gläubiger der bankrotten isländischen Banken hatten eine Armee von Anwälten engagiert, die unablässig Druck auf die Regierung ausübten.Zweitens muss der Gesetzgeber zu hundert Prozent hinter seinen Maßnahmen stehen, und ein starkes Engagement im eigenen Land ist unerlässlich, wenn man einen nachhaltigen wirtschaftspolitischen Kurs beibehalten will. Die dritte Erkenntnis ist analytischer Natur. Die isländische Regierung verwendete sehr viel Zeit darauf, Wirtschaftsdaten zu analysieren und sich einen Überblick über Islands Position nach außen hin zu verschaffen, bevor sie wichtige Entscheidungen traf. Die vierte Erkenntnis ist die, dass diejenigen, die Risiken eingehen, auch die Konsequenzen tragen sollten. Private Investoren hatten große Anteile an den isländischen Banken erworben. Bedauerlicherweise führte dies zu massiven Verlusten für diese privaten Investoren. Dies wird immer ein sehr negativer Aspekt der isländischen Finanzkrise bleiben. Die fünfte Erkenntnis: Es ist wichtig, wie es um die innere Wirtschaftslage eines Landes bestellt ist, denn diese kann einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Island hatte über Jahrzehnte eine unabhängige Geldpolitik und seine eigene Währung, die Króna. Sie wurde während der Krise stark abgewertet, was den Weg für die wirtschaftliche Neuausrichtung frei machte. Eines der Resultate ist der Tourismusboom, der einen starken Zufluss von Devisen nach Island zur Folge hat und so die Devisenreserven stärkt.

Der Zustand von Islands Wirtschaft hat sich innerhalb relativ kurzer Zeit bemerkenswert verbessert, dank unkonventioneller Maßnahmen der Regierung. Islands Gesellschaft allerdings hat sich, trotz des wirtschaftlichen Erfolges, bislang noch nicht von der Krise erholt; das Vertrauen in wichtige Institutionen wie das Parlament und das Bankenwesen ist nach wie vor erschüttert. Viel Zeit und Geduld werden nötig sein, um es wiederherzustellen, aber ich bin zuversichtlich, dass es uns schließlich gelingen wird.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter