Raum für Experimente

Gucken, was passiert

Der finnische Staat zahlt 2.000 Menschen für zwei Jahre ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das Experiment ist Teil einer größeren Geschichte: In Finnland wird gerade das Regieren neu erfunden

Als Ende 2016 publik wurde, dass Finnland die Einführung eines Grundeinkommens testen lassen will, überboten sich internationale Medien in ihrem Erstaunen. »560 Euro, einfach so!«, titelte Die Zeit – und auch der Guardian und Forbes beschrieben das Experiment, bei dem mehr als 2.000 Probanden einen monatlichen Festbetrag von fast 600 Euro bekommen sollten, als regelrechten Paukenschlag. Auch heute, ein halbes Jahr später, ist das Thema noch nicht aus den Schlagzeilen verschwunden. Das dürfte vor allem daran liegen, dass das Grundeinkommen von vielen Beobachtern als mögliches Heilmittel für die größten globalen Herausforderungen unserer Zeit verstanden wird: der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Ungleichheit und der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Bei genauerer Betrachtung sollte das finnische Experiment mit dem Grundeinkommen aber noch aus einem ganz anderen Grund hohe Wellen schlagen. Tatsächlich ist es nämlich nicht nur ein mutiges Einzelprojekt, sondern markiert auch den Beginn einer neuen politischen Ära in Finnland: Die nationale Regierung will keine neuen Gesetze und Richtlinien mehr einführen, ohne ihre Effekte abschätzen zu können. Deshalb soll Legislatur in Zukunft sorgfältig getestet werden, bevor sie verabschiedet wird. Der Feldversuch zum Grundeinkommen ist Teil einer Regierungsstrategie, die politische Entscheidungen gegenüber dem Volk transparenter werden lassen, legislative Fehler vermeidbar und die öffentliche Verwaltung lernfähiger machen soll. Experimente sollen nicht mehr der Medizin und Forschung vorbehalten sein, sondern ihren Weg in den politischen Prozess finden. Was sich bisher diametral gegenüberstand – die verkrustete Bürokratie und die Methode des Trial-and-Error – soll zusammengebracht werden.

Angestoßen wurde diese politische Revolution von der aktuellen finnischen Regierung. Die Einführung einer sogenannten Experimentierkultur ist eines der Leuchtturmprojekte von Ministerpräsident Juha Sipilä. Wie ernst dieser es damit meint, zeigte sich bereits im Frühjahr 2015. Damals beschloss seine Zentrumspartei, die Testversuche zum Grundeinkommen in ihr Regierungsprogramm aufzunehmen. Das überraschte viele Beobachter, denn Sipiläs Mitte-rechts-Regierung gilt für finnische Maßstäbe als äußerst konservativ und bisweilen sogar populistisch.

Im Grunde stützt sich die Idee der experimentellen Politik auf Erkenntnisse, die man außerhalb des öffentlichen Sektors schon seit Jahren gewonnen hat. Große Unternehmen und selbst kleine Start-ups testen ihre Produkte und Dienstleistungen längst sorgfältig, bevor sie verkauft werden. Mithilfe von Probandengruppen und Laborversuchen wird sichergestellt, dass eine Ware zum Zeitpunkt der Markteinführung keine Mängel mehr aufweist und dem Urteil der Käuferinnen und Käufer standhalten kann. Warum sollten solche Methoden der Qualitätssteigerung und Risikominimierung nur in der Wirtschaft sinnvoll sein? Warum können sie nicht auch dazu beitragen, Gesetze zu optimieren, bevor sie in Kraft treten?

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die finnische Regierung die Experimentierkultur als neue politische Leitlinie festgeschrieben und in der Kanzlei des Staatsrats ein eigenes »Büro für Experimente« eingerichtet. Zudem wurden unabhängige Zukunftsforschungsinstitute, Denkfabriken und Universitäten damit beauftragt, neue Strategien für die Umsetzung von politischen Entscheidungen zu entwerfen. Dazu zählt zum Beispiel das sogenannte Design-for-Government-Project, das an der Aalto-Universität in Helsinki durchgeführt wurde. In Kooperation mit Partnern aus der Privatindustrie und der Forschung wurden Daten dazu gesammelt, wie die öffentliche Verwaltung im Sinne von mehr Bürgernähe und Flexibilität umgestaltet werden kann. In offenen Ausschreibungen warb man im Auftrag der Regierung Fachleute für spezielle Bereiche an – etwa für die Optimierung von digitalen Arbeitsprozessen oder die Entbürokratisierung von Verfahrenswegen. Außerdem führten die Projektleiter Interviews mit Führungskräften aus der internationalen Politik und Wirtschaft und ließen Bürger in offenen Paneldiskussionen an dem Prozess teilhaben. Während dieses und ähnliche Projekte, von denen man sich sowohl massive Einsparungen in der Verwaltung als auch mehr Transparenz erhofft, noch in den Kinderschuhen stecken, sind konkrete Legislatur-Experimente, wie der Versuch zum Grundeinkommen, bereits weiter fortgeschritten. Seit einem halben Jahr beziehen die Probanden der Pilotstudie schon Geld, im nächsten Jahr soll das Teilnehmerfeld noch einmal ausgeweitet werden. Dann sollen auch erste Ergebnisse darüber vorliegen, ob ein flächendeckendes bedingungsloses Grundeinkommen wirklich Armut und Diskriminierung verringern sowie den Sozialstaat entbürokratisieren kann.

Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, wäre die neue Politik der Sipilä-Regierung keineswegs gescheitert. Im Gegenteil: Statt ewige Diskussionen über die Vor- und Nachteile einer so grundlegenden Gesetzesneuerung zu führen, hätte man es dann immerhin vollbracht, transparent zu handeln. Bei der experimentellen Politik geht es darum, systematisch zu einem besseren Verständnis der potenziellen Auswirkungen politischer Direktiven zu gelangen. Unabhängig von den Resultaten wird es so künftig möglich sein, Wählern die Argumente für und gegen gewisse Richtlinien besser zu vermitteln. Speziell in Zeiten der Politikverdrossenheit kann die dadurch garantierte Transparenz und legislative Flexibilität dazu beitragen, das Regieren selbst neu zu erfinden.

Dass das Modell der experimentierenden und bürgernahen Verwaltung gerade in Finnland seinen Anfang nimmt, ist nicht sonderlich überraschend. Historisch gesehen fällt es hierzulande auf einen günstigen Nährboden. Seit jeher herrschen in finnischen Institutionen flache Hierarchien und die Vernetzung zwischen Verwaltung, akademischem Sektor und Wirtschaft ist enger gestrickt als anderswo. Das muss nicht bedeuten, dass die Experimentierkultur nur in Finnland funktionieren kann. Kleine Testversuche zum Grundeinkommen gab es schon in den USA, in Indien und Brasilien – und in Kenia zahlt die Wohltätigkeitsorganisation GiveDirectly zurzeit 6.000 Menschen ein bedingungsloses Einkommen, also deutlich mehr Probanden als in Finnland. Auch in Hinblick auf die Umstrukturierung von öffentlichen Verwaltungen gibt es positive Beispiele aus dem Ausland. In Großbritannien gelang es dem sogenannten Behavioural Insights Team (BIT), einer Organisation, die politische Prozesse optimiert, zuletzt, durch die detaillierte Analyse und Umgestaltung bestehender Verwaltungsstrukturen – etwa bei der Steuergesetzgebung – Millioneneinsparungen im öffentlichen Sektor vorzubereiten. Im deutschen Dorf Bohmte schaffte man es mithilfe eines EU-finanzierten Projekts bereits 2008, durch die Analyse der Infrastruktursituation, ein völlig neues Verkehrskonzept auf die Beine zu stellen. Verkehrsschilder und Ampeln konnten komplett abgeschafft werden, während die Sicherheit für Fußgänger und Autofahrer dank intelligentem Design gleichzeitig verbessert wurde.

Im Unterschied zu Finnland stehen der politischen Experimentierkultur anderswo allerdings noch beträchtliche Hindernisse im Weg. In Deutschland werden größere, in Kooperation mit Unternehmen durchgeführte  Testversuche durch die strenge Wettbewerbs- und Kartellgesetzgebung erschwert. Anderswo macht es eine Kombination aus striktem Daten- und Persönlichkeitsschutz und einer intransparenten Verwaltungskultur unmöglich, Daten über Regierungsprozesse zu erheben und auszuwerten. Sollte der Schwenk zur experimentellen Politik jedoch in Finnland gelingen, dann könnten sich bald viele andere Staaten ein Beispiel daran nehmen. Zu hoffen ist in jedem Fall, dass nationale Regierungen Testversuche und Experimente möglichst schnell in ihr politisches Repertoire integrieren.

Aus dem Finnischen von Petra Sauerzapf-Poser

Mitarbeit: Mikko Annala