Ich bin dafür, dass die Europäer weiterstreiten
Ein amerikanischer Wissenschaftler hielt kürzlich in Berlin auf einer Konferenz eine enthusiastische Rede zur Verteidigung der Europäischen Union. Die EU wäre stärker, als sie ahne. Doch dann machte er alles wieder zunichte, indem er hinzufügte: »Die EU ist ganz schön langweilig.« Wirklich? Langweilig?
In den letzten Monaten wird überall gestritten: Ist die EU diese monströse Organisation, die Nationalregierungen bei lebendigem Leib verspeist und Kontrolle über ihre Seelen erlangt? Oder ist sie die wohlwollende Soft Power des 21. Jahrhunderts, die Liebe, Frieden und Demokratie bringt? Der »argumentative European« hat den »argumentative Indian «, wie Amartya Sen eines seiner Bücher betitelte, abgelöst. Jedes Wochenende versammeln sich Tausende von Menschen, um für oder gegen die EU zu demonstrieren.
Mit dabei sind Musik und Tanz. Die EU macht wieder Spaß. Dieses neue ganz und gar nicht langweilige Europa verdanken wir den Brexit-Befürwortern und Donald Trump. Indem sie Europa ihren Hass entgegenschleuderten, brachten sie es ironischerweise wieder auf die politische Landkarte. Die Debatte um Europa wird lebhafter, und nicht nur das: Sie animiert, wie die Wahlen in den Niederlanden und Frankreich gezeigt haben, zahlreiche Jung- und Nichtwähler, die noch nie an einer Wahl teilgenommen haben, ihre Stimme abzugeben.
Die Geschichte der europäischen Einigung verfolge ich seit einigen Jahrzehnten mit Leidenschaft, obgleich ich nur zufällig zur Europäerin wurde. Als gebürtige Südasiatin habe ich erlebt, wie Pakistan und Indien mehrmals gegeneinander Krieg führten. Ich habe gesehen, wie historische Animositäten und Bitterkeit Chaos verursachen. Ich bewundere Europa, das in der Beilegung alter Feindschaften so weit gekommen ist und dem es gelang, Netzwerke der Freundschaft über den Kontinent zu spannen. In Südasien wird wenig unternommen, um die Geschichte zu überwinden. Pakistan und Indien sind noch immer nur eine Haaresbreite vom Krieg entfernt.
Weiter im Süden bemüht sich dagegen der Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN, Verbindungen auf regionaler Ebene zu vertiefen. Die Politiker des ASEAN machen keinen Hehl daraus, dass sie die EU als Inspiration sehen. Zugegeben, die Reputation der Union hat gelitten, und doch ist Europa weiterhin attraktiv. So sieht man es auch in China und Japan. In Asien möchte man zwar mit den USA, der letzten echten Noch-Großmacht, auskommen. Doch wenn es um Märkte, Technologie sowie allgemein um die Soft Power geht, bleibt Europa wichtig.
Wenn Europa nun ein neues Kapitel aufschlägt, ohne Beteiligung der Briten und möglicherweise mit »verschiedenen Geschwindigkeiten«, dann, Europäer, seid gewiss: Man wird auf euch blicken. Packt es an! Die Wahlen zum Europaparlament 2019 müssen in der Öffentlichkeit die gleiche Aufmerksamkeit bekommen, wie die vergangenen Wahlen in den Niederlanden und Frankreich. Das Mindestalter für die Teilnahme an den Wahlen sollte gesenkt und Möglichkeiten der Online-Stimmabgabe sollten geprüft werden. Die politischen Parteien müssen nach charismatischen Kandidaten Ausschau halten, die den Populisten die Stirn bieten können. Und je tiefer wir in die Debatte um die Zukunft Europas einsteigen, umso mehr müssen wir Minderheiten, junge Menschen und Migranten daran teilhaben lassen. Auch sie sind europäische Stakeholder.
Bedauerlicherweise konzentrierten sich die Medien in ihrer Berichterstattung bisher auf die Hassprediger. In den Niederlanden bestimmte der Feuer speiende, xenophobe Anti-Islamist Geert Wilders die Schlagzeilen, während die wirklich herausragende Geschichte doch die von Jesse Klaver war, dem jungen marokkanisch-indonesisch-niederländischen Vorsitzenden der Grünen, der die Sitze seiner Partei im Parlament vervierfachte. Schenken wir unsere Aufmerksamkeit denjenigen, die ein starkes und geeintes Europa wollen, statt seinen lautstarken Gegnern.
Aus dem Englischen von Karola Klatt