Wacklige Werte

Ungleichheit und Populismus bedrohen die Demokratien des 21. Jahrhunderts – und mit ihnen bröckeln auch unsere Grundwerte. Allen voran: die Toleranz

Die Politikverdrossenheit, der Niedergang der Volksparteien, die neue Welle des Populismus, der Aufschwung rechtsextremer und nationalistischer Strömungen, das Versagen staatlicher Institutionen: Die Demokratie steckt gegenwärtig in der Krise. Doch nicht nur unser politisches System bröckelt, mit ihm stehen auch unsere Werte auf dem Prüfstand. Das ist in jeder Staats- und Gesellschaftskrise so und stets wird dabei um einen dieser Werte ganz besonders erbittert gerungen. Bedrohen uns Terrorismus und Krieg, dann verhandeln wir neu, was Sicherheit für uns bedeutet, ist es der Klimawandel, dann diskutieren wir vorrangig über Sozialität und Nachhaltigkeit, stecken wir in einer Finanzkrise, dann reden wir über die Bedeutung von Wohlstand. Mit unseren gesellschaftlichen Werten ist es wie mit einem Mobile: Sie stehen nie fest, sondern positionieren sich immer wieder neu zueinander, je nachdem, wie stark das Mobile bewegt wird. In diesen Tagen wird es regelrecht durchgeschüttelt und dabei droht besonders ein Wert in Mitleidenschaft gezogen zu werden: die Toleranz.

Toleranz, das ist ein Wert, der die Politik demokratischer Staaten in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt hat, auch weil die Multikulturalität auf gesellschaftlicher Ebene immer mehr in den Vordergrund trat. In Ländern wie Frankreich und England waren es die Nachwehen des Kolonialismus, in Deutschland die Integration von Gastarbeitern, in den Vereinigten Staaten und Kanada die Migration, in Skandinavien die Aufnahme von politisch Verfolgten, die aus homogenen Gesellschaften pluralistische Gesellschaften machten. Verschiedene Kulturen mussten nun nebeneinander und miteinander koexistieren. Sicherlich führte dies immer schon zu Spannungen, der Bildung von Subkulturen und sozialen Brennpunkten. Auch gab es insbesondere populistischen und nationalistischen Gruppierungen immer wieder Anlass, gegen „Multikulti“ zu polemisieren. Insgesamt aber war die Politik der Demokratien von Aufnahmebereitschaft und Toleranz geprägt.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Toleranz und Demokratie in gewisser Art und Weise gegenseitig bedingen. In modernen, multikulturellen Staaten müssen am Ende des Tages Mehrheiten geschaffen werden, um Politik zu praktizieren und Entscheidungen zu treffen. Die Zusammenführung von verschiedenenen Meinungen kann in pluralistischen Gesellschaften allerdings nur dann gelingen, wenn Meinungsverschiedenheiten von vornherein als natürlich wahrgenommen und in die Idee eines wechselseitigen Respekts der „Unterschiedlichkeit“ eingespeist werden. Jürgen Habermas nennt das die „Einbeziehung des Anderen“. Dissens und kognitive Vielfalt sind grundlegende Voraussetzungen für demokratische Willensbildung. Erst im Widerstreit der Interessen, Positionen und Meinungen bildet sich das heraus, was übergreifend mehrheitsfähig erscheint. Minderheiten müssen Mehrheitsentscheidungen tolerieren. Sie werden das allerdings nur dann tun, wenn ein gesellschaftsweites Verständnis dafür herrscht, dass es prinzipiell möglich ist, auch andere Meinungen zu äußern, die – egal, wie unwahrscheinlich es sein mag – ebenfalls die Chance haben, gehört zu werden und sich selbst zur Mehrheitsposition aufzuschwingen. Demokratie setzt voraus, dass Menschen mit der Freiheit der anderen umgehen können, also tolerant sind. Als Bürger oder Politiker bin ich dann tolerant, wenn ich Interessen und Positionen, die konträr zu meinen eigenen sind, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus respektiere – sei es aus religösen, ethischen oder humanistischen Beweggründen. Demokratie gründet sich also im Kern auf die Toleranz ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Für die freiheitliche demokratische Ordnung im 21. Jahrhundert reicht es allerdings nicht aus, dass sich die Menschen innerhalb eines Staates gegenseitig achten, also jeder von ihnen Toleranz an den Tag legt. Jenseits der persönlichen Ebene benötigen moderne Gesellschaften institutionelle Mechanismen der Absicherung von Toleranz, um sie in entsprechenden Strukturen, Prozessen und Regeln der Demokratie zu verankern. Gleichberechtigung, Religionsfreiheit und Minderheitenschutz sind wichtige Elemente dieser institutionellen Absicherung. Eine systemisch in das Ordnungs- und Freiheitsmodell der Demokratie eingelassene Toleranz ist maßgebend, weil sie die individuelle Freiheit bedingt. Wankt allerdings das demokratische System im Allgemeinen und gerät die Basis dieser Ordnungsmodelle aus den Fugen, dann bröckelt zwangsläufig auch das Fundament der institutionalisierten Toleranz – und das gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen leidet die Toleranz gesellschaftlicher Gruppierungen untereinander, vor allem aber nimmt die Toleranz der Bürgerschaft gegenüber der Demokratie als Herrschaftsform ab.

Seit einigen Jahren beobachten wir genau diese Entwicklung. In Hinblick auf die Duldung der Demokratie als Regierungsform spielen dabei vor allem die mit der globalen Finanzkrise verbundenen Exzesse der gesellschaftlichen Ungleichheit eine Rolle. Die Popularität von Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das diese Ungleichheit empirisch ergründete und in eine historische Perspektive einordnete, sowie die erstaunlichen Erfolge eines Bernie Sanders im amerikanischen Vorwahlkampf stehen sinnbildlich dafür. Längst beschleicht Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, dass die Demokratie gegenüber den Banken, den Oligarchen und dem gesamten Finanzsystem versagt hat und dass sie sich im globalen Wettstreit der politischen Systeme schwer damit tut, nicht dem Matthäus-Prinzip anheimzufallen, also die ohnehin schon Vermögenden nicht noch weiter zu privilegieren. Vor dem Hintergrund der Ungleichheit scheinen alle Schwächen der Demokratie als Steuerungsregime der Politik zu konvergieren. Zwar wurden immer wieder Anstrengungen unternommen, die Exzesse der Ungleichheit durch Umverteilung abzumildern. Doch trotz progressiver Steuersysteme und einer Fülle an Sozialleistungen sind die Erfolge in dieser Hinsicht eher spärlich ausgefallen. Zwar schreibt sich die Demokratie auf die Fahnen, Freiheit für ihre Bürgerinnen und Bürger zu garantieren, doch konterkariert sie dieses Versprechen in dem Moment, in dem sie ausufernde Ungleichheit zulässt und individuelle Freiheitsrechte zu einer Farce werden lässt. So hat etwa ein italienischer Arbeiter zweifelsohne das Recht auf politische Meinungsfreiheit, aber welche reale Chance hat er, gehört zu werden, wenn er dem Medienimperium eines Silvio Berlusconi gegenübersteht? Eine amerikanische Lehrerin hat das Recht, gegen bestimmte Gesetze zu protestieren, aber welche politische Mitbestimmung genießt sie verglichen mit dem übermächtigen Einfluss der Koch-Brüder und anderer Unternehmerdynastien?

Um die Akzeptanz der Demokratie als Herrschaftsform zu wahren, wäre es entscheidend, die Transformation von ökonomischem Einfluss und wirtschaftlichem Kapital in politischen Einfluss zu verhindern. Doch die Erfolge der Demokratie sind in dieser Hinsicht in den letzten Jahren und Jahrzehnten ausgeblieben. Von faktisch degressiven Steuersystemen über tolerierte Steueroasen bis hin zu organisierten Strategien der „Vermögensverteidigung“, welche die Superreichen gegen Parlamente und Regierungen durchsetzen: Die Politik befindet sich beim Thema Ungleichheit schon lange in der Defensive. Mehr als das: Sie hat den Kampf um ihre Eindämmung scheinbar schon verloren gegeben.

Diese Krise der Demokratie untergräbt zwangsläufig nicht nur die gesellschaftliche Achtung des Systems an sich, sie bringt auch die Architektur der gesellschaftlichen Toleranz ins Wanken. Wenn Freiheit nur horizontal unter Eliten gilt und nicht mehr von „unten“ nach „oben“, was ist sie dann noch wert? Der Kleinmut der Demokratien wirkt sich in dieser Hinsicht negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Weder können die Bürger weiterhin die systematische Langmut gegenüber Lobbyismus, Wahlkampffinanzierung und elitenfreundlichen Steuergesetzen tolerieren, noch kann die Toleranz innerhalb der Gesellschaft aufrechterhalten werden, wenn Rechte immer ungleicher verteilt werden.

Als würde all das die gesellschaftliche Toleranz nicht schon ausreichend auf die Probe stellen, so kommen seit geraumer Zeit stets noch weitere Faktoren mit ins Spiel, die ob der demokratischen Systemkrise nur noch schwerer auf ihren Schultern lasten: Zum einen hat die global zu beobachtende religiöse Radikalisierung fundamentalistischer, oftmals islamistischer Gruppen und ihre Besinnung auf die Ablehnung „westlicher Werte“ und eine Strategie des Terrors die Atmosphäre der kulturellen Toleranz durch eine der Gegensätzlichkeit und Intoleranz ersetzt. Zum anderen, und teilweise damit zusammenhängend, überfordert der massive Migrations- und Einwanderungstrend die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft vieler Demokratien, was dort wiederum vermehrt zu kontroversen Debatten über „Leitkultur“ und kulturelle Vielfalt führt.

Waren diese Debatten in der Vergangenheit angesichts der Strapazierbarkeit demokratischer Grundwerte und Institutionen kein grundlegendes Problem für die Toleranzfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, so werden sie nun, wo die Demokratie in der Krise steckt, durchaus kritisch. Vor allem, wenn sie wie in der jüngeren Vergangenheit immer öfter antidemokratische Züge annehmen und in eine grundsätzliche Ablehnung der bisher praktizierten demokratischen Toleranz umschlagen. Die amerikanische Tea Party steht genauso sinnbildlich für diese Ablehnung oder gar Verteufelung der Toleranz wie die französische Front National und die deutsche Pegida-Bewegung. Längst handelt es sich dabei nicht mehr um Einzelfälle, sondern um einen politischen und gesellschaftlichen Flächenbrand, der es bereits vermocht hat, formale Demokratien wie Polen oder Ungarn in autoritäre Regime zu verwandeln.

Toleranz ist dabei von den Populisten längst zu einem Unwort uminterpretiert worden. Sie kritisieren, dass die aktuellen demokratischen Regierungen zu tolerant mit „nichtwestlichen“ oder „nichteuropäischen“, im Falle der USA „nichtamerikanischen“ Kulturen umgingen. Insbesondere islamische und islamistische Gruppierungen würden zu sanft angefasst, etwa indem Sprachkurse nicht erzwungen oder das Verschleierungsverbot nicht konsequent durchgesetzt würde. Eine vermeintlich ausufernde Toleranz stellt aus ihrer Sicht eine Gefahr für die „Leitwerte“ und die „nationale Identität“ dar, führe also dazu, dass homogene Nationalkulturen sich ins Beliebige auflösten. Wer zudem zu tolerant gegenüber Frauenfeindlichkeit, Kriminalität und dem Widerstand gegen Normen und Werte der Gastländer sei, der begünstige damit die Bildung von abgeschotteten Subkulturen und stifte sozialen Unfrieden. Es werden zunehmend einfache Antworten gesucht von Bürgerinnen und Bürgern, die sich von den anstehenden komplexen politischen Problemen kognitiv überwältigt fühlen und der Demokratie nicht mehr zutrauen, als Lösungsmodell zu fungieren.

Somit stehen wir vor einem Paradox: Einerseits nimmt die Bedeutung der Toleranz für die Effizienz unserer demokratischen Staaten zu, da sie in immer pluralistischeren und multikulturelleren Gesellschaften den Grundstein für die Meinungsbildung legen muss. Sie ist bei der Vermittlung zwischen diversen Gruppen unerlässlich. Andererseits beobachten wir de facto einen Rückgang der Toleranz und eine zunehmende Unvereinbarkeit von Interessen und Weltanschauungen, weil man ebendiesen Demokratien immer seltener über den Weg traut. Was bleibt, ist das Wüten gegen die Vielfalt und eine gegenseitige Beschneidung unserer Freiheiten, welche die Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft im Umkehrschluss nur noch weiter erodieren. Dass Toleranz in pluralistischen Gesellschaften zugleich wichtiger und knapper wird, läuft im Endeffekt also auf ein Dilemma für Demokratie und Freiheit hinaus.

Um Toleranz als Grundwert wieder stärker zur Geltung zu bringen, wird es erforderlich sein, eine zweigleisige Strategie zu praktizieren: Zum einen müssen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft das Weltbürgertum wiederentdecken, also die Einbettung der nationalen Gesellschaften in globale Netze und Beziehungen wieder als etwas Positives herausstellen. Zum anderen sollte der komplementäre Wert der lokalen Gemeinschaft durch konkrete Maßnahmen gestärkt werden. Der Soziologe Roland Robertson hat diese Doppelbewegung treffend „Glokalisierung“ genannt. In beiden Richtungen geht es darum, die Toleranz gegenüber Heterogenität und Vielfalt durch konkret erlebte positive Erfahrungen zu stärken. Toleranz neu zu denken, sie nicht nur als moralischen Wert zu verstehen, sondern als Ressource, welche die Lebensqualität in einer Gesellschaft mit definiert, das wird die Aufgabe der Zukunft sein.

Als Rahmen für diese anspruchsvolle Aufgabe ist die Demokratie trotz ihrer momentanen populistischen Krise weiterhin besser geeignet als jede andere Regierungsform. Sie setzt von vornherein auf Pluralismus und Meinungsvielfalt und hat sich in dieser Hinsicht schon mehrfach bewährt, etwa in Fragen der Inklusion im Erziehungssystem oder der Beteiligung von Ausländern an der Kommunalpolitik. Die aktuellen Entwicklungen sollten uns allerdings auch eine Lektion sein. Denn auffällig ist vor allem eines: Intoleranz ist gerade dort virulent, wo Menschen sich als Verlierer „des Systems“ sehen. Die Wähler der AfD, der Front National oder die Mitläufer eines Donald Trump stehen sinnbildlich dafür. Was wir daraus lernen sollten, ist vor allem, dass es grundsätzlich auf die Qualität demokratischer Politik ankommt, wenn es darum geht, die Ursachen für Intoleranz zu bekämpfen. Weniger sollte es uns darum gehen, Appelle an Personen und Gruppierungen zu richten und ihnen eine moralisch verwerfliche Intoleranz anzukreiden. Vielmehr gilt es, im Namen der Toleranz die Fähigkeit der Demokratie zu stärken, ihre Versprechen von Chancengleichheit und Fairness besser umzusetzen, um jeglicher Form von Intoleranz schon im Vornhinein den Nährboden zu entziehen.