„Oltre la mafia“ hieß eine am 21. Mai 2016 in Palermo abgehaltene Veranstaltung zur Erinnerung an den Richter und Mafiajäger Giovanni Falcone, der 1992 mit 500 Kilogramm TNT ermordet wurde. „Oltre“ bedeutet „über“ oder „mehr als“, kann aber auch für „jenseits“ stehen. „Mehr als die Mafia“, oder „jenseits der Mafia“? Wahrscheinlich ganz ungewollt spiegelte der Veranstaltungstitel wider, was viele Menschen in Italien beschäftigt: Ist das Mafia-Problem nun gelöst oder nicht? Wenn es nach der Renzi-Regierung geht, dann ist Ersteres der Fall. Zwei Kollegen von Falcone, die auf dem Symposium Vorträge hielten, sehen das anders. Kein Wunder: Beide engagieren sich aktiv im Kampf gegen die Mafia und sind von ihr zum Tode verurteilt worden.
Tatsächlich gibt wohl gerade der naive politische Optimismus der Renzi-Regierung der Mafia Auftrieb. Weil Teile der neuen Mafiosi-Generation in Schlips und Kragen auftreten und in Cambridge studiert haben, hat sich eine Art Laissez-faire-Attitüde breitgemacht. Die organisierte Kriminalität sei keine große Bedrohung mehr, heißt es aus politischen Kreisen, eigentlich sogar so harmlos, dass sie beinahe salonfähig sei. Was erst mal wie ein Scherz klingt, ist schon heute Realität: Im April trat Giuseppe Salvatore Riina, Sohn von Salvatore Riina – „Capo dei Capi“, also Boss der Bosse, der sizilianischen Cosa Nostra – in der beliebten Fernsehshow „Porta a Porta“ von Bruno Vespa auf.
Der Sprössling des Mannes, der wegen seiner Brutalität als „die Bestie“ bezeichnet wird, bekam alle Zeit der Welt, sein Buch „Riina – ein Familienleben“ vorzustellen und zu vermarkten.
Die Mafia zur besten Sendezeit? Wie symbolkräftig dieser Auftritt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen war, erklärte zuletzt Roberto Saviano, der Autor des Bestsellers „Gomorrha“, der selbst auf der Liste der zum Tode verurteilten Mafia-Gegner steht: „Die Mafiosi merken, dass ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, und nutzen die Schwäche des Staates, um versteckte Botschaften zu senden.“
Und tatsächlich philosophierte der Sohn von „Totò“ Riina in aller Öffentlichkeit über die Werte, den Respekt und die Liebe, die ihm seine Familie und speziell sein Vater entgegengebracht habe. Als Vertreter des „Bosses aller Bosse“ inszenierte Riina Junior die „neue“, gesellschaftsfähige Mafia. Für Saviano war es „die stärkste Botschaft der Cosa Nostra in den letzten zwanzig Jahren“ und gleichzeitig ein Versuch der Verständigung mit der italienischen Justiz – es ging wohl auch darum, eine Hafterleichterung für Riina Senior zu erwirken.
Ein Fernsehkanal als Bühne für die Mafia – das steht sinnbildlich für die neue, ins Gewand des Alltags gehüllte organisierte Kriminalität. In der Lombardei stellten Ermittler kürzlich fest, dass dort nicht nur die Wirtschaft unterwandert ist, sondern eine „borghesia mafiosa“, ein „mafiöses Bürgertum“ sein Unwesen treibt, das tief in den politischen Strukturen der Region verwurzelt ist. Im April dieses Jahres sagte Piercamillo Davigo nach seiner Nominierung zum neuen Präsidenten der nationalen Richtervereinigung: „Die Politiker haben nicht aufgehört, zu stehlen, aber sie haben aufgehört, sich zu schämen. Heute behaupten sie ungeniert, ein Recht darauf zu haben, so zu handeln, wie sie es früher nur heimlich getan haben.“
Wie stark mittlerweile vor allem die Korruption mit der Mafia zusammenhängt, wurde bereits Ende 2014 klar, als der Skandal, der unter dem Titel „Mafia Capitale“ Schlagzeilen machte, aufgedeckt wurde. Fast der ganzen römischen Stadtverwaltung sowie mehreren hohen politischen Verantwortlichen waren damals enge Kontakte zu kriminellen Netzwerken nachgewiesen worden. Sie hatten über Jahre hinweg gegen Bestechungsgelder lukrative Aufträge an Land gezogen. Dabei ging es um Abfallbeseitigung, den Betrieb von Flüchtlingsheimen, Sozialwohnungen, Parkreinigung und Straßenbau. Eine kriminelle Organisation, die keine politischen Farben kannte, hatte Geschäfte sowohl mit dem Rechtspopulisten und ehemaligen rechtsextremistischen Bürgermeister Gianni Alemanno als auch mit dem nachfolgenden linksorientierten Stadtrat gemacht. Eine Mafia ohne die alten Rituale und Traditionen, dafür aber gefährlich wie ein Krake, dessen Tentakel überallhin reichen – das ist das neue Gewand der organisierten Kriminalität in Italien. Eine Gesellschaft jenseits der Mafia? Das bleibt wohl vorerst nur ein Veranstaltungstitel.