Korrektheit ist kein Schimpfwort
Hier eine Beleidigung, da ein Shitstorm: Der Umgangston in politischen Diskussionen wird immer härter, sachliche Kritik ist out. Ist uns die Debattenkultur abhandengekommen?
Verändert sich unsere Debattenkultur zum Negativen? Pauschalisierende Befunde erscheinen mir als Antwort auf diese Frage nicht angebracht. Natürlich hat sich allein schon der Rahmen, in dem wir diskutieren, historisch gesehen verändert: Im 18. und 19. Jahrhundert waren öffentliche Debatten begrenzt auf Salons, Zeitungen und Parlamente. Später kamen die Massenmedien, also der Rundfunk und das Fernsehen, sowie die großen Parteien dazu. Politische Debatten wurden in der Massendemokratie für alle zugänglich und später durch das Internet und die sozialen Medien noch weiter demokratisiert. Wenn ich ernsthaft der Meinung wäre, dass die Maßstäbe zur Bewertung der Debattierpraxis heute dieselben wären wie schon vor zweihundert Jahren, dann käme ein Aspekt wie die Demokratisierung als kultureller Gewinn gar nicht erst in den Blick. Aber diskutieren wir nun besser oder schlechter? Klar ist, dass sich mittlerweile vor allem große Uneinigkeit darüber entwickelt hat, wie wir miteinander reden und Sprache gebrauchen.
Als ausgesprochen widerwärtig empfinde ich das Geraune, das man heutzutage – zumindest in Deutschland – vermehrt zum Thema sprachliche Korrektheit vernimmt. Redet man heute von Political Correctness, dann wird man mit allerlei Vorbehalten und Einwänden konfrontiert, zum Beispiel, dass man hierzulande in Debatten nicht alles sagen dürfe und dass sich eine „linke Kultur“ etabliert habe, die andere Meinungen unterdrücke. Bis vor einigen Jahren blieb dieses Gerede noch begrenzt auf dubiose Zirkel und einschlägige Websites rechter Provenienz. Sprachkonservative registrierten eine Art Verhunzung der Sprache, pragmatisch Gesinnte meinten, dass eine politisch korrekte Ausdrucksweise oft schlicht unpraktisch sei. Mit alldem kann ich leben, ohne es gleich akzeptieren zu müssen. Doch mit Pegida, der rechten „Friedensbewegung“ und der AfD haben die Ideologen, die diese Positionen vertreten, mittlerweile die Durchsetzungsmacht erlangt. Sie vermögen es nun, der öffentlichen Debatte ihren Stempel aufzudrücken. Plötzlich wird Political Correctness von vielen Menschen als Problem wahrgenommen.
Nur, was spricht denn, bei allen mehr oder weniger berechtigten Einwänden, dagegen, den eigenen Sprachgebrauch kritisch zu reflektieren? Zeigt unsere Sprach- und Argumentationspraxis nicht auch die Spuren einer herrschaftlich-vermachteten Gesellschaftspraxis? Beim „großen I“ und seiner Ablösung durch „_innen“ geht es doch nicht nur darum, Vollständigkeit in der Aufzählung zu erreichen. Es ging und geht doch immer auch darum, bewusst machende Irritation zu erzeugen. Das ist kein Plädoyer dafür, eine alternative Rede- und Schreibweise zu fordern. Aber das Anliegen, unsere Sprachpraxis zu reflektieren, ist in jedem Fall ein mehr als gerechtfertigtes Unterfangen.
Das ist bei den Spuren des Rassismus in unserer Sprache auch so. Als Gesellschaft sind wir dabei, uns das Wort „Rasse“ abzugewöhnen. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Wenn man aber einmal versucht, auszudrücken, aufgrund welcher „Eigenschaften“ Menschen rassistisch diskriminiert werden, ist es gar nicht so einfach, das ohne Rückgriff auf „Rasse“ zu tun. Es ist möglich, ich habe es selbst schon gelesen, aber man muss eine Weile darüber nachdenken, wie man das möglichst genau und zugleich verständlich formuliert. Das zeigt, wie weit rassistische Praktiken in die Strukturen der Sprache eingedrungen sind. Auch hier ist zumindest eine wache, kritische Reflexion angesagt.
Allerdings sollte man nicht der Versuchung erliegen, bei der Sprachkritik stehen zu bleiben. Viele Menschen in der besser situierten Mittelschicht von durchaus progressiver Gesinnung würden ihren Kindern schnell den Gebrauch von Wörtern wie „Neger“ ausreden; aber wie sieht es mit der Bereitschaft aus, die eigenen Kinder auf Schulen mit einem höheren Anteil von Kindern migrantischer Herkunft zu schicken? Schnell setzen sich Muster fort, die dem Rassismus ähneln, ohne von einer explizit rassistischen Ideologie geleitet zu sein. Auch die Benachteiligung von Frauen ist mit einer Sprachkritik allein nicht aufzuheben. In jedem Fall kann Political Correctness allenfalls der Einstieg in eine politische Praxis sein, die grundlegende Strukturen der Gesellschaft verändern will, in denen die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen noch immer verstetigt ist.