Meine Großeltern sind in den 1960er- und 1970er-Jahren aus Indien nach Großbritannien eingewandert, und ich wurde in London geboren. Aufgewachsen bin ich jedoch in Kenia, wo mein Vater als Architekt arbeitete. Die Schule, die ich in Nairobi besucht habe, hat mich stark geprägt. Es war eine britische Schule, die darauf abzielte, die Kinder zu gläubigen Christen und zum Gehorsam zu erziehen. Die Prügelstrafe wurde auch praktiziert: Die Mädchen wurden mit einer Reitpeitsche gezüchtigt, die Jungen mit einem alten Sportschuh, der einmal dem Schuldirektor gehört hatte. Ich selbst habe nie Schläge bekommen, weil ich ein sehr braves Kind war und aus Angst vor Strafe immer getan habe, was man mir gesagt hat. Trotzdem liebte ich die Schule, das Gemeinschaftsgefühl, das morgendliche Singen. Allerdings bin ich bis heute damit beschäftigt, bestimmte Gewohnheiten loszuwerden, die mir dort eingetrichtert worden sind, wie zum Beispiel, dass man Autoritäten nicht hinterfragt.
Nachdem ich in Bristol Literatur studiert und drei Jahre in einer Werbeagentur gearbeitet hatte, bin ich Anfang 2002 mit meinem späteren Mann nach Berlin gezogen. Deutschland hat mich in einem Maße verändert, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Während ich in Großbritannien das Gefühl hatte, Europa sei nicht mehr als eine gut funktionierende Wirtschaftsgemeinschaft, habe ich in Deutschland eine andere Art kennengelernt, heimisch zu sein. Ich verstand nun den historischen Kontext der EU und die wunderbare Vision einer friedlichen Koexistenz verschiedener Staaten in einer grenzfreien Zone. Diese neue europäische Identität hat mir irgendwie geholfen, all meine anderen Identitäten zusammenzuhalten. In der letzten Zeit fühle ich mich allerdings im Hinblick auf Europa immer mehr wie eine Liebende, der plötzlich die hässlichen Seiten des Geliebten bewusst werden. Dass die EU-Mitgliedsstaaten sich nicht auf Kontingente für die Verteilung einer moderaten Zahl von Flüchtlingen einigen konnten, war für mich ein besonders harter Schlag. Das Flüchtlingsthema hat mich auf unerwartete Weise mit Aspekten meiner eigenen Biografie und dem Leben zwischen den Welten konfrontiert. Ende Januar 2016 habe ich deshalb gemeinsam mit anderen Aktivisten die Initiative „Wir machen das“ gegründet, die sich für Flüchtlinge einsetzt.
Auch in Bezug auf mein politisches Engagement war Deutschland entscheidend für mich. Hier findet ein völlig anderer politischer Diskurs statt als in England. Mein Schlüsselerlebnis waren die Enthüllungen Edward Snowdens zur Massenüberwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA. In Großbritannien gab es kaum empörte Reaktionen und die Regierung versuchte, die Tageszeitung The Guardian mundtot zu machen. In Deutschland fand dagegen eine wirkliche Diskussion statt und es gab Proteste. An einigen habe ich teilgenommen. Obwohl ich keine deutsche Staatsangehörige bin und die Sprache damals kaum beherrschte, fühlte ich mich hier zum ersten Mal wie ein engagierter Bürger. 2010 habe ich gemeinsam mit meinem Mann die Organisation „Authors for Peace“ gegründet, weil ich mir einen Ort wünschte, wo ich mich mit anderen Autoren über politische Themen austauschen kann. Die Idee war, sich durch kollektive Aktionen Gehör zu verschaffen.
Im Januar 2016 waren wir an der weltweiten Lesung für den in Saudi-Arabien zum Tode verurteilten palästinensischen Dichter Ashraf Fayadh, mit mehr als 120 Veranstaltungen in über vierzig Ländern, beteiligt. Zwar wurde die Todesstrafe für Fayadh später aufgehoben, aber er wurde stattdessen zu acht Jahren Gefängnis und 800 Peitschenhieben verurteilt. Das Schicksal dieses Mannes, der so grausam bestraft wurde, einfach nur dafür, dass er schöne Gedichte schreibt, bewegt mich sehr. Es hat mir die Augen dafür geöffnet, wie sehr unsere westlichen Regierungen dazu beitragen, verabscheuenswürdige Regime, wie jenes in Saudi-Arabien, zu legitimieren.
Protokolliert von Stephanie Kirchner