Italien

Geistige Armut

In kaum einem Industrieland können die Menschen so schlecht lesen und schreiben wie in Italien. Das zerstört die Gesellschaft

Um Italien zu verstehen und das, was dort in Politik und Gesellschaft vor sich geht, reicht eine Zahl: 28. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat berechnet, dass 28 Prozent der Italiener zwar einfache Wörter und Sätze lesen und schreiben können, aber nicht in der Lage sind, einen komplexen Text zu verstehen. Sie sind sogenannte funktionale Analphabeten. Anders ausgedrückt: Zwei Absätze sind schon zu viel. Einen Zeitungsartikel von Anfang bis Ende zu lesen, ist für diese Menschen eine äußerst schwierige Angelegenheit. In Deutschland sind 17,5 Prozent der Erwachsenen funktionale Analphabeten.

Nicht richtig lesen und schreiben zu können, ist nicht nur ein Problem für den Einzelnen, sondern berührt eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme wie die mangelnde Teilnahme am öffentlichen Leben, die Politikverdrossenheit und das verlorene Ansehen von Politikern, Schriftstellern und Lehrern.

Das ist alles in Italien nichts Neues. Seit Jahren rufen prominente Linguisten und Intellektuelle wie Tullio De ­Mauro dazu auf, endlich aus der Lethargie aufzuwachen, denn der funktionale Analphabetismus gefährdet das gesellschaftliche Leben zutiefst. De Mauro hält die OECD sogar für allzu großzügig. Seiner Meinung nach hätten bei einem schriftlichen oder mündlichen Text siebzig Prozent der Italiener Schwierigkeiten. Das sind auch diejenigen, die „sich ins Privatleben zurückziehen und es nicht schaffen, ihr Leben in einer komplexen Gesellschaft wie der italienischen zu leben“.

Doch wird diese Tatsache nicht mit anderen in Bezug gesetzt, sondern man erlebt jeden Notstand, als wäre er davon unabhängig. Nehmen wir die Krise des Buchmarkts. Wir wissen, dass in Italien weniger als die Hälfte der Bevölkerung liest (etwa 43 Prozent, und dabei sprechen wir von Menschen, die ein einziges Buch pro Jahr lesen). Wir wissen auch, dass 36 Prozent der Bücher, die im Umlauf sind, von einer kleinen Gruppe von Viellesern (vier Prozent der Bevölkerung) erworben wird. Jenseits von Zahlen und auch jenseits des Buchmarkts bedeutet das, dass sich die Welt der Kultur verengt, bis sie bloß noch mit einem Trüppchen Widerständiger zusammenfällt.

Und diese haben es derzeit nicht leicht, nachdem die Verlagsgruppe Mondadori (im Besitz des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio ­Berlusconi) den Großverlag RCS Libri übernommen hat. Der unabhängige, mutige Verleger Giuseppe ­Laterza schrieb dazu kürzlich: „Mit dem Kauf von RCS Libri kontrolliert Mondadori nun mehr als dreißig Prozent des Buchmarkts und in manchen strategischen Sektoren wie dem Taschenbuch sind es sogar 65 Prozent. Die Folge ist ein starker Anstieg der Möglichkeiten seitens Mondadoris, den Markt zu bestimmen, wo der Verlag nicht nur in der Produktion, sondern auch im Vertrieb und im Handel, offline wie online, präsent ist.“

In einer bereits in der Krise befindlichen Verlagslandschaft birgt dieser Kauf die Gefahr, weitere Risse zu erzeugen. Schon seit einigen Jahren ist in Italien, wo es keinen ermäßigten Umsatzsteuersatz oder sonstige gesetzliche Regelungen für Bücher gibt, bekannt, dass Texte in den Regalen der Buchhandlungen nur eine äußerst kurze Lebensdauer haben: 720 Stunden, dreißig Tage, sagen die Optimisten. Die Pessimisten gehen von 15 Tagen aus. Grund dafür ist besonders das große Angebot: über 60.000 Neuerscheinungen pro Jahr in einem Land von Nichtlesern. Um Platz für die Neuzugänge zu schaffen, müssen die Buchhändler ihre Lager räumen. Also wird es unwirtschaftlich, ein Buch, das nicht sofort großen Absatz findet, mehr als zwanzig Tage lang zu behalten. Es ist ein Teufelskreis: Ein Verleger publiziert immer mehr Titel, weil er denkt, er könne damit die auf ihn zukommenden unverkauften Exemplare aufwiegen und das Budget ausgleichen. Wenn in einem Jahr nicht ein bestimmter Umsatz erreicht wird, werden im folgenden noch mehr Titel in hoher Auflage auf den Markt geworfen. Das ähnelt stark den Swaps, die zur großen Finanzkrise geführt haben, und eine Trendwende ist nicht in Sicht.

Vielmehr nimmt die wachsende und nun auch in der Politik siegreiche Versuchung zu, sich von jeglicher Komplexität zu verabschieden, von jeglicher nicht vereinfachter Ausdrucksweise, von jeglichem Versuch, eine Aufmerksamkeit zu erzeugen, die über die 140 Zeichen eines Tweets hinausgeht. „Intellektueller“ ist in Italien ein Schimpfwort geworden. Irgendwann in unserer jüngeren Vergangenheit wurde plötzlich jeder, der sich mit Denken oder Büchern beschäftigt (von rechts wie von links, von oben wie von unten), als Parasit in der Gesellschaft identifiziert, als jemand, der sich nicht um die wahren Probleme kümmert, sondern seine Zeit im Korbstuhl auf der Terrasse verbringt.

Nehmen wir einmal an, das wäre wahr (was es nicht ist). Es ist nicht die vermeintliche Macht jener vermeintlichen Elite, die uns interessieren sollte. Vielmehr geht es um die Macht der Lektüre. Wenn die Fähigkeit zu lesen abnimmt, sind wir am Ende. Der Verlust der Fähigkeit zu lesen bedeutet einen Verlust der Fähigkeit, Bürger einer Gesellschaft zu sein. Er bedeutet ein fehlendes Bewusstsein dafür, dass es sich um öffentliche Äußerungen handelt, wenn man in sozialen Netzwerken aufs Geratewohl Politiker und andere berühmte Personen beleidigt.

Die Lesefähigkeit zu verlieren bedeutet auch, von der Welle der Homophobie mitgeschwemmt zu werden, auf deren Rücken in vielen Städten Italiens, vom kleinen Siniscola auf Sardinien bis hin zum großen Venedig, im Laufe des letzten Jahres Kommunalbeamte und Bürgermeister Kinderbücher als „gender-ideologisch“ und „homosexualistisch“ auf den Index gesetzt haben. Darunter finden sich auch Meisterwerke der Kinderliteratur wie „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ von Leo Lionni.

Die Fähigkeit zu lesen zu verlieren bedeutet, von einem unablässigen Strom von Nachrichten mitgerissen zu werden, die man nicht versteht, außer in der komprimierten Form der sozialen Medien. Es soll hier jetzt nicht die Komplexität der Reden des ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moros aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit den Tweets von Ministerpräsident Matteo Renzi heute verglichen werden. Und doch, das lehren uns die YouTube-Stars, ist die Haltung identisch: Man muss seine Ausdrucksweise absenken, sie bis zur Banalität entfleischen, um den Gesprächspartner glauben zu lassen, dass er so ist wie du und dass er nur durch einen Zufall nicht an deiner Stelle steht. Vor nicht allzu vielen Jahren versuchte man Wissen zu verbreiten, um es zu teilen und daran zu wachsen. Heute ist, wer Wissen verbreitet, ein Intellektueller. Also muss er bekämpft werden.

Es gab einen, der das schon früh erkannt hat. Im Herbst 1994, nach Amtsantritt von Ministerpräsident Silvio Berlusconi, schrieb der Dichter Franco ­Fortini vor seinem Tod einen langen, schrecklichen Brief: „Wer vor dem gut gezüchteten Verfall der Informationsqualität, der Grammatik und selbst der journalistischen Methoden in der Presse und am Bildschirm die Augen verschließt, macht sich zum Komplizen derer, die davon wissen, stöhnen und sich davon lenken lassen. Wie schon 1922 und 1925. ... Säubern wir die Syntax und die Hirnhäute. Lasst uns nicht einen Artikel pro Tag schreiben, sondern lernen, uns zu wiederholen, gegen die Einschaltquote und die Werbeverträge.“
Fortini mahnte an, die eigenen Entscheidungen abzuwägen: „Vor Jahren schrieb ich, mit Nachdruck, dass der Schauplatz des nächsten Kampfes die Redaktionen sein würden.“

Es sollte wie eine Mahnung klingen. Doch es klingt wie eine Klage, die dazu bestimmt ist, sich im Wind zu verlieren. Wenn sich in Italien nicht endlich wirklich etwas ändert.

Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter