Entspannt im Beichtstuhl
Trotz Papst und Heiligenverehrung: Auf das Leben der Italiener hat die katholische Kirche immer weniger Einfluss
Mit bloßem Auge ist die Säkularisierung Italiens, seine langsame, aber kontinuierliche Entchristianisierung, nicht offensichtlich. Denn archaische oder volkstümliche Frömmigkeitsformen bleiben von dieser Entwicklung quasi unangetastet. In Neapel wiederholt sich seit dem Mittelalter jedes Jahr unvermeidlich das Blutwunder des heiligen Januarius, des Stadtpatrons San Gennaro, also die Verflüssigung seines Blutes während eines Gottesdienstes.
In vielen Haushalten, Geschäften und Büros findet man ein Porträt von Pater Pio. Der Kapuzinermönch Pio von Pietrelcina, der 1968 starb und 2002 heiliggesprochen wurde, genießt seit über siebzig Jahren die inbrünstige Verehrung seiner Anhänger. Berühmt ist er für die vielen Wunder, die ihm zugeschrieben werden. So brauchte er Briefe nicht zu öffnen, er „las“ deren Inhalt von außen. Die Gläubigen sind von seinen besonderen Fähigkeiten überzeugt, als wäre er eine Kreuzung aus Batman und dem heiligen Franziskus.
Ist Pater Pio, eine Gestalt des Südens, vor allem ein Idol des gemeinen Volks, war der 2005 verstorbene Luigi Giussani dagegen eine charismatische katholische Führungsfigur und Verfasser ausgefeilter theologischer Abhandlungen. Dieser Monsignore mit dem runden, lächelnden Gesicht hat die Bewegung Comunione e Liberazione (CL, dt. „Gemeinschaft und Befreiung“) gegründet, die ihre Wurzeln in der Gegend um Mailand hat. Für Giussani erfolgt die Begegnung mit Christus nur über die katholische Kirche, und der Glaube soll das gesamte Leben eines Gläubigen durchdringen, einschließlich seines politischen Engagements. Diese Thesen haben die Bewegung zu katholisch-fundamentalistischen Positionen geführt. Mit der Zeit ist CL ein mächtiger politischer Akteur geworden, Unterstützer der italienischen Rechten und der Regierungen Berlusconis.
Es stimmt auch, dass die katholische Kirche insgesamt großen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben der Italienischen Republik hatte, schließlich war die katholisch gefärbte Democrazia Cristiana lange die Partei mit relativer Mehrheit und hat mit ihren jeweiligen Koalitionspartnern Italien von 1946 bis 1992 ununterbrochen regiert. Was die heutigen Wahlen betrifft, scheinen die italienischen Katholiken jedoch zu weitgehend gleichen Teilen die Rechten und die Linken zu wählen.
Wer heute genau hinschaut, sieht, dass die im Ausland verbreitete Überzeugung, dass Italien, auf dessen Territorium der Papst im Vatikanstaat seinen Sitz hat, ein zutiefst von der katholischen Kirche geprägtes Land sei, immer weniger zutrifft.
Durch die unangefochtene Vorherrschaft der katholischen Kirche musste sich der Katholizismus in Italien nie im Verhältnis zu konkurrierenden Religionen definieren, sondern allein im Verhältnis zu den politischen und wirtschaftlichen Mächten. Der Katholizismus der Italiener ist daher nicht dramatisch, er ist entspannt, er versteht sich von selbst.
Das 1861 entstandene Königreich Italien war ursprünglich antipäpstlich und antikatholisch, da der Heilige Stuhl der Einheit des Landes feindlich gegenüberstand und den italienischen Staat mehr als sechzig Jahre lang nicht anerkannte. Erst 1929, mit dem Konkordat zwischen dem faschistischen Staat und der Kirche, wurde die katholische Religion zur Staatsreligion erklärt. Diese Verflechtung von Kirche und Staat wurde vom darauffolgenden Konkordat 1984 stark eingeschränkt.
Die These der Säkularisierung mag auf den ersten Blick nicht einleuchtend erscheinen, denn über 81 Prozent der Italiener bezeichnen sich heute als Katholiken und etwa ein Viertel auch als praktizierend. Päpste wie Johannes Paul II. und heute Franziskus genießen auch unter den Nichtgläubigen große Beliebtheit. Die katholische Religion ist zwar keine „Staatsreligion“ mehr, aber in den öffentlichen Schulen Italiens wird eine Stunde pro Woche katholische Religion unterrichtet (jeder Schüler kann sich davon befreien lassen). In Wirklichkeit jedoch drückt ein Großteil der Italiener, die sich als Katholiken bezeichnen, vor allem eine ethnische Zugehörigkeit aus, schließlich lassen sich die meisten von ihnen scheiden, treiben ab oder haben gleichgeschlechtlichen Sex.
Auch die statistischen Daten belegen, dass der Einfluss der Kirche schwindet, wenn auch in etwas geringerem Ausmaß als in den nordeuropäischen Ländern. Von 2002 bis 2012 sank die Zahl der Priester um zehn Prozent und die der Nonnen um rund zwanzig Prozent. Aus diesem Grund werden immer mehr italienische Gemeinden von Priestern betreut, die aus dem Ausland kommen, vor allem aus Afrika und Asien.
Um rechtlich gültig zu heiraten, kann man in Italien zwischen einer standesamtlichen und einer kirchlichen (katholischen) Trauung wählen. Seit 1972 gehen die Trauungen in Italien stetig zurück, die standesamtlichen sind jedoch kontinuierlich gestiegen, 2012 erreichten sie 41 Prozent aller Trauungen. Bei vielen davon handelt es sich um zweite Eheschließungen, die von der Kirche nicht zugelassen werden, doch auch bei den ersten Ehen steigt die Zahl der standesamtlichen Trauungen. Konstant nehmen auch die unehelichen Kinder zu – 2013 waren es eins von vier Kindern.
Ungefähr zwölf Prozent der italienischen Schulen sind katholische Privatschulen. Doch auch hier wohnen wir einem langsamen Rückgang der konfessionellen Schulen bei.
In der biopolitischen Sphäre hat Italien mittlerweile eine Rechtsprechung, die mit derjenigen anderer europäischer Länder in Einklang und im Widerspruch zu den bioethischen Prinzipien der Kirche steht. Die Scheidung hat Italien 1970 eingeführt, Abtreibungen wurden 1978 legalisiert, und seit 2016 sind Lebenspartnerschaften, insbesondere von Schwulen und Lesben, rechtlich geregelt.
Als ein weiteres Zeichen der Säkularisierung können wir die niedrige Geburtenrate in Italien ansehen: 2014 lag sie bei 1,4 Kindern pro Frau (dieselbe Rate wie in Deutschland und Österreich), Zeichen einer Geburtenkontrolle, welche die Kirche grundsätzlich ablehnt. Die Säkularisierung ist im Norden des Landes ausgeprägter, im Zentrum etwas weniger und im Süden noch weniger, entsprechend der Kluft in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Bestimmte spirituelle Bedürfnisse, die einst durch die Religion befriedigt wurden, werden heute eher durch Praktiken zur körperlich-seelischen Hygiene ausgedrückt, mit denen man ein geistiges Wohlbefinden anstrebt: Yogaübungen, alternative Medizin, Psychotherapie, asiatische Kampfkünste und Meditationen.
Der italienische Katholizismus hat über die Jahrhunderte nicht gerade durch große Mystiker oder raffinierte Theologen geglänzt; wir hatten keinen Meister Eckhart, keine Teresa von Ávila, keinen Johannes vom Kreuz. Vielmehr hatte der italienische Katholizismus eine menschenfreundlich-praktische, pädagogische oder politische Ausrichtung. Die italienischen Katholiken sind daher insbesondere im Schul- und Gesundheitssystem sowie in der Wiedereingliederung von Drogenabhängigen präsent. Einer der berühmtesten Priester heute ist Don Luigi Ciotti, Vorkämpfer der Linken, der sich zuerst durch seine Wiedereingliederungsarbeit mit Rauschgiftsüchtigen hervorgetan hat und anschließend als Gründer einer Vereinigung, die gegen die Mafia kämpft.
Es gibt jedoch auch einen militanten konservativen Katholizismus, der sich dem Kampf gegen „Gender“ verschrieben hat, besonders an den Schulen. Mit „Gender“ meint er die Zulassung „irregulärer“ Familien, bei denen beide Elternteile schwul oder lesbisch sind. Die Kampagne schlägt die fanatischen Töne eines Kreuzzugs an. In der Tat betrifft der einzige wirkliche Gegensatz zwischen Katholiken und weltlichen Linken heute biopolitische Fragen, die mit Sexualität, Leben und Tod verbunden sind: Verhütung, Abtreibung, Sterbehilfe, lebensverlängernde Maßnahmen, Scheidung, gleichgeschlechtliche Paare. Die soziale Doktrin der Kirche dagegen findet Gefallen.
In den letzten Jahren ist neben der kleinen jüdischen Minderheit durch Einwanderung eine muslimische Gemeinde entstanden, die heute circa 1,2 Millionen Anhänger zählt. Fertiggestellte Moscheen gibt es in Italien nur vier, und der Bau neuer islamischer Gotteshäuser ist Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen zwischen denjenigen (vor allem von links), die Moscheen zu fördern versuchen, und denjenigen (vor allem von rechts), die der Verbreitung des Islam in Italien feindlich gegenüberstehen. Vornehmlich dank des Islam müssen sich die Italiener nun erstmals in ihrer Geschichte mit einer anderen Religion messen. Italien ist auf dem Weg, ein multi-religiöses Land zu werden.
Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter