Ein Anwalt stirbt in Dachau

Was wussten die Amerikaner zwischen 1933 und 1945 über die Judenverfolgung? Das Holocaust-Gedenkmuseum in Washington schickt Privatleute auf die Spurensuche in Lokalzeitungen

„Die Misshandlung der jüdischen Rasse in Deutschland ist beendet“ – das ist nicht etwa der Inhalt eines Telegramms kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Gegenteil: Es ist eine Schlagzeile aus den „Bangor Daily News“, einer Lokalzeitung mit Sitz im US-Bundesstaat Maine, veröffentlicht am 27. März des Jahres 1933. Am selben Tag erscheint knapp tausend Kilometer weiter südlich, in der Stadt Fredricksburg in Virginia, ebenfalls ein Artikel zur Lage der Juden in Deutschland. Das Thema: die repressive Politik der NSDAP und die Eröffnung einer Haftanstalt in Dachau.

Es sind Zeitzeugnisse wie diese, Ausschnitte aus der amerikanischen Lokalpresse von Montana bis Pennsylvania, die Schüler, Studenten und Professoren in den vergangenen Monaten aus den Tiefen von Bibliotheken und Online-Zeitungsarchiven ans Tageslicht befördert haben. 1.500 Artikel hat das Holocaust-Gedenkmuseum in Washington D.?C. für das Projekt „History unfolded“ auf diese Art und Weise bereits gesammelt. Zehntausende sollen es werden. Es geht bei dem Projekt um die Frage, was die Amerikaner zwischen 1933 und 1945 über die Judenverfolgung, über den Holocaust und über das Naziregime wussten – oder vielmehr: wissen konnten.

Bereits die Ergebnisse der ersten Monate zeigen: Diese Frage eindeutig zu beantworten, ist schwierig. Zwar berichtete die amerikanische Lokalpresse regelmäßig über die politischen Entwicklungen in Deutschland, die veröffentlichten Inhalte wirken im nationalen Vergleich aber oft so diffus und widersprüchlich wie die Meldungen aus Bangor und Fredricksburg. Einserseits belegen Artikel aus New York City, dass im Madison Square Garden bereits Ende 1933 mehr als 20.000 Demonstranten gegen die Judenverfolgung in Deutschland protestierten. Andererseits erschienen noch Jahre später undurchsichtige Berichte zu den genauen Vorgängen in Deutschland. „Ein Anwalt stirbt in Dachau“, heißt es da, von Massenmorden oder gar Genozid ist keine Rede. Über die Existenz von Konzentrationslagern klären nur zwei der bisher gesammelten Artikel auf. Allerdings werden die Lager dort nicht als Vernichtungseinrichtungen für die deutschen Juden identifiziert, sondern als Gefängnisse für Kommunisten: „German Prisons for Reds“ titelte etwa die Washington Post. Im November 1942 erschien wiederum ein Bericht mit der Überschrift „Hitler will alle Juden vernichten“, der in Lokalzeitungen in ganz Amerika abgedruckt wurde. Der Krieg war da allerdings schon drei Jahre in vollem Gange.

Auch wenn die bisher gesammelten Artikel und Schlagzeilen inhaltlich eindeutiger wären, gäbe es methodisch noch immer eine wichtige Frage zu klären: Lässt die Verfügbarkeit von Informationen den Schluss zu, dass der Durchschnittsamerikaner über den Holocaust und die deutschen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung informiert gewesen ist? Es ist anzunehmen, dass sich sowohl der Farmer aus Alabama als auch der Fabrikarbeiter aus dem Norden zu Zeiten der Großen Depression weniger für internationale Politik, als für die amerikanische Binnenwirtschaft interessierte. Das Projekt selbst kann so weit natürlich nicht gehen, aber es wäre wünschenswert, wenn es in Zukunft mit ergänzender soziologischer Forschung verbunden werden könnte.

Ob „History unfolded“ den Diskurs zum Holocaust in der amerikanischen Lokalpresse erfolgreich abbilden können wird, hängt vor allem von der Arbeit unserer „Citizen Historians“ ab. Bis zur Eröffnung der Ausstellung „Die Amerikaner und der Holocaust“ im Jahr 2018 wollen wir mehr als 200.000 Freiwillige in den Rechercheprozess einbinden. Unter newspapers.ushmm.org kann jeder mitmachen – auch von Deutschland aus.

Protokolliert von Kai Schnier