„Die Schönheit wurde nicht für Touristen geschaffen“
Italien ist berühmt für seine Kulturschätze. Wie lassen sie sich erhalten? Ein Gespräch mit dem Archäologen und Kunsthistoriker
Herr Settis, Italien hat ein reiches Kulturerbe, was bedeutet das für die aktuelle Kulturpolitik?
Italiens kulturelles Erbe ist nicht nur aufgrund seiner Schönheit und Qualität so bemerkenswert, sondern weil es einfach überall zu finden ist: selbst auf dem Land und in kleinen Städtchen. Dieses Erbe wurde über viele Jahrhunderte bewahrt, weil der Erhalt stets als Bürgerpflicht empfunden wurde. In der Verfassung Sienas steht etwa, dass die Stadt ihre Schönheit schützen müsse: „La bellezza della città è per la prosperità dei cittadini e l’allegrezza dei forestieri“ („Die Schönheit der Stadt ist für den Wohlstand der Bürger und die Freude der Fremden.“) Leider neigen wir Italiener seit einigen Jahren dazu, das Kulturerbe als eine Belastung anzusehen. Anstatt stolz darauf zu sein, zweifeln wir, ob das nötige Geld für seinen Erhalt vorhanden ist.
Dario Franceschini, der Kulturminister der Regierung, hat im Gespräch mit Journalisten vor Kurzem in Rom gesagt: „Kultur und Tourismus, Schönheit und Kreativität sollen zum Wachstumsmotor Italiens werden“. Kann das gelingen?
Franceschini verkennt die Bedeutung von Kultur und Schönheit. Die Schönheit wurde nicht für Touristen geschaffen, sondern für die Bürger. Die italienische Verfassung schreibt den Erhalt des Kulturerbes im Artikel 9 fest. Franceschini betont aber die Bedeutung des Tourismus und den wirtschaftlichen Aspekt von Kultur. Das lässt sich auch an der von ihm initiierten Reform der Kulturpolitik ablesen. Im Zuge dieser Reform wird einzelnen Museen mehr Autonomie gegeben. Traditionell waren für Kulturangelegenheiten aber immer die Regionen zuständig. Das liegt daran, dass das italienische Kulturerbe sehr ortsbezogen ist. Wenn man nach Parma geht, findet man dort vor allem Kunstsammlungen aus dem Besitz des ehemaligen Herzogs von Parma. Die Uffizien in Florenz bauen auf Sammlungen des toskanischen Großherzogtums auf. Durch Franceschinis Reform gerät die „tutela“, also der Erhalt und die Pflege von Kulturgütern, in den Hintergrund im Vergleich zur „valorizzazione“, der Nutzung. In der Praxis bedeutet das, dass Museen mehr Ressourcen bekommen und Leute, die früher in den regionalen Kulturbehörden, den Soprintendenze, gearbeit haben, in die Museen versetzt werden.
Was ist die Rolle dieser Soprintendenze?
Die Soprintendenze kümmern sich um die Kulturgüter einer Region. Wenn etwa bei einem Bauprojekt archäologische Reste gefunden wurden, entscheidet die Soprintendenza, ob weiter gebaut werden darf. Für Franceschini sind aber die Museen und damit die Nutzung von Kulturgütern wichtiger als dieser Denkmalschutz – ein gavierender Fehler.
Warum?
Die regionale Kulturarbeit wird vernachlässigt: Wer kümmert sich heute um das kleine Kloster, das von einem Erdbeben beschädigt wurde, und sorgt für eine angemessene Restaurierung? Der Direktor oder die Angestellten eines Museums können diese Arbeit nicht leisten. Doch mit zu wenig finanziellen und personellen Mitteln können auch die Soprintendenze den Erhalt des Kulturerbes nicht mehr garantieren.
Der Kulturminister scheint gerne mit italienischen Traditionen zu brechen. Was halten Sie von der Entscheidung, ausländische Experten für die Leitung bedeutender Museen auszusuchen?
Das ist ein sehr guter und wichtiger Schritt. Problematisch ist nur, dass Franceschini einen viel zu kleinen Ausschuss mit nur fünf Mitgliedern berief, welche die Direktorenposten der zwanzig wichtigsten Museen Italiens besetzen. Einige Entscheidungen waren zwar gut. Aber das Engagement des besten Museumsdirektor reicht nicht, um die starken finanziellen und personellen Engpässe vieler Museen auszugleichen.
Die Touristen kommen dennoch in Scharen. 2015 vermeldeten die Museen einen Rekord: 43 Millionen Besucher sorgten für Einnahmen in Höhe von 155 Millionen Euro. Was bedeutet das für Städte wie Venedig oder Florenz?
Während des Karnevals oder der Biennale kommen in Venedig bis zu sechzig Touristen auf einen Einwohner. Das ist Wahnsinn! Wie soll man dieses Problem in den Griff bekommen? Manche wollen von Touristen für das Betreten der Stadt einen gewissen Betrag kassieren. Ich halte davon nichts. Eine Stadt ist kein Museum. Man sollte lieber den Strom der Touristen umleiten. Warum wird eine Stadt wie Vicenza kaum von Touristen besucht, obwohl sie architektonisch durchaus mit Venedig vergleichbar ist? Die meisten Touristen wissen nichts über Italien. Sie gehen ins Reisebüro und buchen eine Pauschalreise, und schon hat man eine Million Menschen auf der Piazza San Marco. Das Ministerium für Kultur und Tourismus ignoriert dieses Problem. Wenn man nach Venedig fährt und die Stadt nicht kennt, muss man sich anhand von Wegweisern orientieren. Und wo führen diese hin? Piazza San Marco, Accademia, Rialtobrücke ...
Besteht in einem Land mit so viel Kulturerbe die Gefahr, dass die zeitgenössische Kunst ins Hintertreffen gerät?
Die Gründe für den Erfolg zeitgenössischer Künstler sind schwer zu ermitteln. Hängt der Erfolg von der Qualität der Kunst ab oder eher von der Art und Weise, wie sie beworben wird? Es gibt einige neue und sehr aktive Museen, wie das Castello di Rivoli in Turin, das Maxxi and Macro in Rom oder das MART in Rovereto. Es mangelt nicht an Interesse für zeitgenössische Kunst, sondern wie immer an Geld. Zeitgenössische Künstler bekommen in Italien sehr wenige öffentliche Aufträge. Aber auch die Reichen kaufen lieber antike Kunst, da diese als eine risikoärmere Investition angesehen wird. Deshalb gibt es in Italien keine Kultur kontinuierlicher künstlerischer Kreativität.
In einem Artikel in der Zeitung La Repubblica haben Sie von einer „Krise der Kreativität“ in Italien gesprochen.
In diesem Artikel bin ich auf die Krise der Kreativität in der Wissenschaft eingegangen. Der italienischen Wissenschaft werden ständig Mittel gekürzt. Die aktuelle Regierung behauptet zwar, sie würde 2,5 Milliarden Euro in die Wissenschaft investieren. Bei dem Geld handelt es sich aber um europäische Subventionen, die bereits in den letzten zwei bis drei Jahren angesammelt wurden. Dieses Beispiel spiegelt die Einstellung wider, die Renzi selbst als „Storytelling“ bezeichnet. Eine seiner ersten Aussagen, nachdem er Ministerpräsident geworden war, lautete: „wir müssen die Erzählung Italiens verändern“. Er plädiert also gerade nicht dafür, Italien zu verändern, sondern lediglich die Art und Weise, wie es dargestellt wird. Italienische Universitäten bilden nach wie vor hervorragende Wissenschaftler aus. Diese finden aber keinen Job in Italien und ziehen in andere Länder. Italien verschwendet unglaublich viel Potenzial und viele Ressourcen. Ich halte die aktuelle italienische Bildungspolitik für selbstzerstörerisch.
Geht es vor allem um die Frage, wie man Bildung finanzieren kann?
Die italienische Politik stützt sich auf die Idee, dass Investitionen in Bildung ein Luxus seien. Den kann man sich erst leisten, nachdem all die neuen Autobahnen, Bahnhöfe und Fußballstadien gebaut wurden. Dazu kommt, dass es im Ausbau von Infrastruktur einfacher ist, Steuergelder zu unterschlagen. Korruption kommt in der Archäologie oder Biologie weniger vor.
Was muss getan werden, um die Stagnation im Kulturbereich aufzubrechen?
Ein erster Lösungsansatz wäre es, der Korruption aktiv entgegenzutreten. Die Schwierigkeit liegt aber darin, dass sie auf allen Ebenen stattfindet – von der Wirtschaft bis zur Politik und in allen Parteien. Wenn man die Korruption überwinden würde, wäre mehr Geld für Bildung und Kultur da. Ein zweiter Ansatz liegt darin, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Italien ist weltweit auf Platz drei der Länder in denen am meisten Steuern hinterzogen werden. Laut der Handelskammer Confcommercio sind allein 2014 154 Milliarden Euro am Fiskus vorbei geflossen.
Renzi hatte als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris Ende 2015 gesagt, er wolle junge Menschen an die Kultur heranführen, und versprach 18-Jährigen einen Kulturbonus über 500 Euro. Wofür geben die jungen Leute dieses Geld aus?
Das hat keine wirklichen Folgen gehabt, ist aber ein Beispiel für Renzis Populismus. Gleichzeitig zeigt es die Inkompetenz der Regierung, die öffentlichen Institutionen wirklich funktionsfähig zu machen. Ab und zu heißt es: „Wir geben euch 500 Euro!“ Diese theatralischen Verkündigungen dienen aber nur dazu, die wahren Probleme des Landes zu überdecken.
Das Interview führten Timo Berger und Luca Seufert