Die Bienenstock-Mentalität
Die Literatur als Spiegelbild der Gesellschaft: Warum in Italien die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wichtiger ist als alles andere
Für viele Italiener besteht der wichtigste persönliche Wert in der Zugehörigkeit: darin, ein geschätztes Mitglied einer von ihnen geschätzten Gruppe zu sein. Nur leider entspricht diese Gruppe nie der Gesamtgesellschaft und steht zudem meist in heftigem Konflikt mit letzterer oder mit anderen Gruppen. Die Loyalität gegenüber einer Stadt, einer Gewerkschaft, einer politischen Partei oder einer Gruppe innerhalb einer Partei rangiert also vor der Solidarität mit der Nation und befördert oft ein dubioses Moralverhalten und eine offenkundig unsinnige Politik. Erst als Florenz im 15. Jahrhundert mit einem mächtigen externen Feind konfrontiert war, schlossen sich seine Bürger zusammen, wie Niccolò Machiavelli uns in seinen „Florentinischen Geschichten“ berichtet. Kaum war der Feind besiegt, dividierten die Florentiner Bürger sich wieder auseinander; künftig befeuerte jedes aufkeimende Problem, so gering es auch sein mochte, den erbitterten Kampf zwischen den dominierenden Gruppen. Und so könnte man mit Fug und Recht auch die heutige italienische Gesellschaft beschreiben.
Diese Beobachtungen mögen alltäglich sein, doch nur selten wird die Frage gestellt, wie sich dieses Phänomen in der Literatur des Landes widerspiegelt. Welche Emotionen und Geschichten sind typisch für eine solche Sozialstruktur? Wird sie von den Schriftstellern im Allgemeinen verurteilt oder wird sie vielmehr gefeiert und gefördert? Hat sie auch eine gute Seite?
Als Erstes ist vielleicht erwähnenswert, wie viele italienische Autoren auf die eine oder andere Weise zu Exilanten geworden sind. Wo Zugehörigkeit den höchsten aller Werte darstellt, wachen die Menschen geradezu manisch darüber, wer es verdient, in eine bestimmte Familie oder Gruppe einbezogen zu werden und wer nicht, während der erzwungene Ausschluss eine Strafe darstellt, die den Sinn und Zweck des Lebens an sich zu untergraben droht. Dante wurde 1302 aus Florenz verbannt und strebte die restlichen zwanzig Jahre seines Lebens danach, dorthin zurückkehren zu dürfen. Im Inferno, dem ersten Teil der „Göttlichen Komödie“, kommen immer wieder die widersprüchlichen Gefühle der Verzweiflung über die Exklusion und der Freude über die Inklusion zum Ausdruck, die Scham darüber, von seinen Peers geächtet zu werden, aber auch darüber, erkennen zu müssen, dass diese Peers die eigene Achtung gar nicht verdienen.
Fast alle Toten sind besessen von der Frage, was Freunde und Verwandte zu Hause in Florenz wohl von ihnen halten. Die erbärmlichsten der Seelen, denen Dante begegnet, sind diejenigen, denen weder zum Himmel noch zur Hölle Zugang gewährt wird, weil sie sich weder mit Gott noch mit dem Teufel verbündet hatten. Andererseits genießen die großen Autoren der Vergangenheit – Homer, Horaz und Ovid – „solches Vorrecht, Das von dem Los der übrigen sie sondert“. Es versteht sich von selbst, dass der exilierte Dante sich als jemanden darstellt, der eingeladen wird, ihrer Gruppe beizutreten.
Literaturwissenschaftler haben schon vor langer Zeit dargelegt, wie sich die Auswahl derer, die von Dante kritisiert oder gepriesen werden, im Verlauf der „Göttlichen Komödie“ ändert, je nachdem, welche mächtigen Leute in Florenz der Autor gerade für in der Lage hielt, ihm zur Rückkehr in die Stadt zu verhelfen. Gegen Ende des „Paradiso“, des dritten und letzten Teils der „Göttlichen Komödie“, als bereits klar geworden war, dass seine politischen Aktivitäten ihn nicht nach Hause bringen würden, verleiht Dante der Hoffnung Ausdruck, es möge „das geweihte Lied“ selbst sein, das „die Grausamkeit bezwänge, die mich ausschließt“.
Ein Grund, warum so viele italienische Schriftsteller ins Exil verbannt worden sind und bis heute mildere Formen des Ausschlusses erfahren (man denke an die wiederholte Klage des Nobelpreisträgers Dario Fo, vom öffentlichen Fernsehen ausgeschlossen zu sein), ist ihr intensives Engagement für öffentliche Angelegenheiten. Die Logik des italienischen Zugehörigkeitsgeistes besteht darin, dass dominante Gruppen ständig bestrebt sind, die talentierten Künstler für ihre Zwecke einzuspannen, während die Künstler sich selten zurückhalten, weil die Teilnahme an Gruppenaktivitäten in Italien unweigerlich zu Ansehen führt. Von den Stadtstaaten der Renaissance bis zu unserer heutigen Welt mit politischen Parteien, Zeitungen und Facebook hat es nur wenige große italienische Autoren gegeben, die sich nicht auf irgendeine Art und Weise ins öffentliche Leben eingemischt hätten.
Oft ist gerade die Tatsache, dass ein Schriftsteller im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, der Grund für die Verbannung. Das traf auf Dante und wohl auch auf Torquato Tasso und Ugo Foscolo zu. Nachdem Machiavelli durch die aus dem Exil zurückgekehrte mächtige Familie der Medici im Jahr 1512 von seinem Regierungsposten entfernt worden war, zog er sich gezwungenermaßen auf sein Landgut außerhalb der Stadt zurück und schrieb ein Buch, von dem er hoffte, es würde ihm erneut zu Amt und Würden in der Politik verhelfen, die ihm so viel bedeuteten. „Der Fürst“ ist tatsächlich durchdrungen von dem Bewusstsein, dass das öffentliche Leben ein Spiel um Exklusionen und Inklusionen ist.
Und häufig ist es wiederum so, dass italienische Schriftsteller nur aufgrund ihrer Verbannung überhaupt die Zeit zum Schreiben finden, wodurch das Schreiben selbst zu einem Appell für die Re-Inklusion wird, denn künstlerisches Talent wird als Ausdruck besonderer Wertigkeit verstanden. Ludovico Ariosto war einer der Autoren, die Anfang des 16. Jahrhunderts eindeutig zum Establishment gehörten. Doch als er einmal von Straßenräubern gefangen genommen worden war, wurde er, so erzählt man sich, wieder freigelassen, als der Anführer der Räuberbande erfuhr, dass er der Autor von „Orlando furioso“ war. Jahrhunderte später entkam Mario Sironi, sowohl ein ausgezeichneter Maler als auch der wichtigste Ikonograf der faschistischen Propaganda, im letzten Moment einem Erschießungskommando, als ein Partisan ihn als den Künstler erkannte. Die im späten 19. Jahrhundert in England und Frankreich sehr verbreitete Ansicht, ein Künstler solle sich aus dem öffentlichen Leben heraushalten, seine Kunst solle rein sein und niemandem dienen, fand in Italien keinen großen Anklang.
Die literarische Sprache ist immer ein Diskussionsgegenstand, gerade wegen der Spannung zwischen den Gruppen und der Gesamtgesellschaft. Dante bestand darauf, sein großes Gedicht in der toskanischen Volkssprache zu verfassen, und räumte damit dem kleinen Kreis derer, die Latein lasen und schrieben – eine privilegierte Elite, in die er selbst nicht hineingeboren worden war –, nicht den üblichen Vorrang ein. Später, in der Verbannung, sollte er mit Erstaunen die Bandbreite der verschiedenen, untereinander nicht verständlichen Mundarten entdecken, die in Italien existieren. Das Italienische war doch nicht das einende Element, für das er es gehalten hatte. Und sie sollte es auch in den nächsten 500 Jahren nicht werden.
In den 1840er-Jahren beschwerte sich Alessandro Manzoni darüber, wie ärgerlich es sei, wenn während eines Gesprächs mit Mailänder Freunden ein Fremder aus Neapel, Venedig oder Florenz auftauche und alle ins Italienische wechseln müssten, statt sich im lokalen Dialekt zu unterhalten. „Sagen Sie mir“, empört er sich, „ob wir jetzt noch die gleiche Sprachgewandtheit und das gleiche Vertrauen in unsere Wortwahl haben können, sagen Sie mir, ob wir jetzt nicht auf allgemeine und ungefähre Wörter zurückgreifen müssen, wo wir zuvor den treffenden Ausdruck parat hatten.“
Dennoch war es Manzoni, der sein großes Werk „Die Brautleute“ zweimal umschrieb, damit es zum Vorbild für die Nationalsprache würde, zugänglich für jedermann, woraufhin es von den 1870er-Jahren an im Zuge eines Bildungssystems, das unbedingt das Nationale anstelle des Lokalen zelebrieren wollte, tatsächlich einem jeden förmlich aufgedrängt wurde. Und da es den Menschen aufgedrängt wurde, erregte es natürlich auch viel Missfallen.
Die in lokalen Dialekten verfasste Dichtung gedeiht in Italien nach wie vor, ebenso wie Romane, die, wie die des sizilianischen Detektivromanautors Andrea Camilleri, voller mundartlicher Wendungen sind. Und auf die eine oder andere Art enthält der Prosastil in Italien auch immer einen Gestus der Loyalität und der Zugehörigkeit, sei es zu einer Elite, einer Jugendkultur, einer Ideologie oder einer Klasse. Ein absolut neutrales und hyperkorrektes Italienisch findet sich einzig und allein in den unzähligen Übersetzungen des Landes, hauptsächlich von amerikanischen Romanen, die ungefähr fünfzig Prozent der in Italien gelesenen Erzählliteratur ausmachen. Man ärgert sich nicht so schnell über etwas, das von außerhalb kommt und nichts von den im italienischen Alltag brodelnden Konflikten weiß. Die Leser können sich also eher über einen Jonathan Franzen oder eine Toni Morrison einig sein als über Umberto Eco oder Roberto Saviano.
Die Beständigkeit dieser Dynamik der Zugehörigkeit in der italienischen Gesellschaft ist bemerkenswert. In der Zeit des Faschismus gab es jede Menge Schriftsteller, die ins interne Exil geschickt, das heißt von den Gruppen, die ihrem Leben den Sinn verliehen, getrennt wurden, oder aber solche, die sich dem Faschismus anschlossen. Manche, wie Curzio Malaparte, schwankten zwischen den beiden Positionen hin und her, standen im einen Moment mit dem Establishment im Einklang, im nächsten nicht, dann wieder doch. Und schaut man sich an, was diese Autoren geschrieben haben, selbst die offensichtlich privaten und entschieden unpolitischen Texte, dann steht die Problematik der Zugehörigkeit fast immer im Mittelpunkt. In Natalia Ginzburgs Texten gehen die pathetischsten Momente unweigerlich mit dem einsamen Tod eines aus der Gruppe Ausgeschlossenen einher, während die komödiantischen Situationen von Menschen erzeugt werden, die durch vorgetäuschte Hilflosigkeit und Bedürftigkeit die Gruppe dazu bringen, ihnen beizustehen. Elsa Morantes wunderbarer Held Arturo in „Arturos Insel“ träumt davon, in eine Tafelrunde nobler Helden aufgenommen zu werden, nur um festzustellen, dass der Vater, den er für hochwürdig gehalten hat, sich in einer Welt bewegt, die rettungslos verkommen ist. Fast alle Romane von Cesare Pavese haben einen Protagonisten, der sich mit einer Gruppe einlässt und sich dann unvermittelt und angewidert wieder aus ihr zurückzieht.
Neuere Romane aktualisieren diese Tendenz eher, als dass sie sie verändern würden. Berühmte Titel wie „Jack Frusciante è uscito dal gruppo“ (dt. etwa: „Jack Frusciante hat die Gruppe verlassen“) oder „Die Einsamkeit der Primzahlen“ sprechen für sich. In Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“ sind zwei Freundinnen von der Idee besessen, die Schriftstellerei zu nutzen, um der neapolitanischen Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen sind, zu entkommen und sich Zugang zu einer besseren Gesellschaft zu verschaffen. Vincenzo Latronicos Roman „La mentalità dell’alveare“ (dt. etwa: „Die Bienenstock-Mentalität“) beschwört ein Italien, in dem eine Organisation wie Beppe Grillos „MoVimento 5 Stelle“ die Macht übernommen hat. Eines der beunruhigendsten Merkmale der Bewegung, das Latronico gut beschreibt, ist der Umstand, dass ihre Mitglieder immer wieder aufgefordert werden, online für die Ausgrenzung anderer zu stimmen, die sich in irgendeiner Hinsicht als unwürdig erwiesen haben.
Kurz gesagt, obwohl die italienischen Schriftsteller die Zersplitterung in Gruppen immer verurteilt haben, verleihen ihre Werke doch unweigerlich den Gefühlen, Werten und Geschichten einer Welt Ausdruck, in der Zugehörigkeit mehr zählt als jeder andere Wert, Freiheit, Tugend und Erfolg eingeschlossen. Italien ist also ein Land, in dem regionale Beleidigungen mittlerweile zwar (absurderweise) in die Fußballstadien verbannt worden sind, bei Dante jedoch bewundert werden: „… O Genuesen, Volk das abgewendet / Von aller Sitte ist und voller Tücke, / Warum seid aus der Welt ihr nicht verstoßen!“
Aus dem Englischen von Ulrike Becker