Der Durst nach Wissen
In seiner „Geschichte der Neugierde“ untersucht Alberto Manguel mit Dante Alighieri, wie der menschliche Forscherdrang wirkt
Wenn Dante , der berühmteste Höllenforscher des Mittelalters, sich im „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“ danebenbenimmt, wenn er vor Mitleid in Tränen ausbricht, zu zornig wird oder zu vorlaut, dann folgt ein Ruf zur Ordnung: Sein Begleiter Vergil achtet darauf, dass die fein austarierten Höllenkreise nicht aus dem Takt geraten. Gleichzeitig ermuntert der antike Dichter den mittelalterlichen, mit den Verdammten Kontakt aufzunehmen, und erklärt ihm die göttliche Logik der Strafen. Dante will so viel wie möglich wissen, und dieser Forscherdrang ist es, der ihn für Alberto Manguel zum Faszinosum macht. Seine „Geschichte der Neugierde“ stellt Dante nicht nur als prototypischen Fragesteller vor, sondern auch als Dichter, der die Macht der Fiktion auslotet wie keiner zuvor.
Dass die Neugier zur menschlichen Grundausstattung gehört, dass „wir“ wissen wollen und immer weiter fragen, ist der Ausgangspunkt in Alberto Manguels weitverzweigter Kulturgeschichte. Bei der Neugier gehe es nicht um letztgültige Antworten, sondern um eine Kunst des Fragens, die der Einbildungskraft den Boden bereite, schreibt der Autor, der mit seiner „Geschichte des Lesens“ bekannt wurde. „Die Neugierde wirkt wie eine umgekehrte Gravitationskraft, denn je höher wir streben, je mehr wir fragen, desto größer wird unser Wissen von der Welt und von uns selbst: Die Neugier lässt uns wachsen.“ In 17 Kapiteln, die an Schlüsselszenen aus Dantes „Divina Commedia“ anknüpfen, stellt Manguel die großen W-Fragen, ob „Wer bin ich?“, „Wo gehören wir hin?“ oder „Was ist Wahrheit?“.
Vorangestellt ist jedem Kapitel eine persönliche Anekdote, die den Autor auf wichtigen Lebensetappen zeigt, als kleinen Jungen, der vom Schulweg abkommt, oder auch als älteren Herrn, der sich selbst nicht wiedererkennt. Manguel, geboren 1948 in Buenos Aires, wuchs als Sohn eines argentinischen Diplomaten in Israel auf, war Vorleser beim blinden Jorge Luis Borges und führt ein polyglottes Gelehrtenleben mit Stützpunkten in Buenos Aires, Kanada und Südfrankreich. Manguel schreibt vor allem als Enthusiast mit überbordendem Archivwissen, bei dem Leben und Lesen nahtlos ineinander übergehen. Neben Borges’ „Fiktionen“ waren es bislang Montaignes „Essais“, Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ und der „Don Quijote“, die er am meisten bewunderte. Jetzt, erklärt er, „in einem etwas fortgeschrittenen Alter, ist für mich die ‚Commedia‘ von Dante das Buch, das einfach alles zu beinhalten scheint“.
Tatsächlich öffnet die „Göttliche Komödie“ Zugänge zu zweitausend Jahren Geistesgeschichte: Manguel reiht Fundstück an Fundstück, kommt von Platon und den Sophisten zu Augustinus und Thomas von Aquin, zu Galilei, Lévi-Strauss, Rachel Carsons Öko-Klassiker „Silent Spring“, streift die Buchstabenkombinatorik der Kabbala, erinnert an die Feministin und Fragestellerin Olympe de Gouges und denkt über Atombomben nach.
Verfasst ist die „Geschichte der Neugierde“ in einem angenehm eleganten Plauderton, der nicht oberlehrerhaft klingt, weil er von Begeisterung getragen ist. Trotzdem wirkt der Wissensstrom manchmal auch ermüdend, vielleicht, weil ihm im Guten wie im Schlechten etwas Kulinarisches anhaftet: Die Freude am Kommentar wie auch das genüssliche Präsentieren von Fundstücken sind einerseits ansteckend, andererseits haben so existenzielle Fragen wie „Was machen wir hier?“ bei Manguel nichts Drängendes mehr; es ist, als ob ihnen der Stachel gezogen wurde, als ob es ewig so weitergehen könnte im Gedankenfluss. Dazu kommt, dass Manguels Dante gelegentlich seltsam unhistorisch erscheint: Zwar fächern gleich mehrere Kapitel den Kosmos der Scholastik auf und stellen eine der zentralen philosophischen Fragen um 1300 – ob Literatur, also etwas Erfundenes, überhaupt etwas Wahres hervorbringen könne. Aber Manguel versetzt sich in seinen Dichter, als sei der ein hochmoderner Zeitgenosse. Wenn etwa die Hunde in der „Commedia“ schlecht wegkommen, dann wird die Sache so lange gedreht, bis doch noch ein positives Hundebild herauskommt. Was Dante beim Anblick von Haushunden gefühlt hat – wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass die Zeit empfindsamer Tierliebhaberei erst viel später anbricht.
Trotz dieser Einwände überwiegt letztlich aber das Entdeckerglück, das die „Geschichte der Neugierde“ vermittelt. Wenn Manguel etwa den Fürsten von Sansevero porträtiert, der im 18. Jahrhundert über die Quipu-Schrift der Inkas (in der unterschiedliche Knoten an Schnüren für verschiedene Zahlen standen) phantasiert, wird sein Buch zur Wunderkammer, die in Borges-Manier lauter weitere Wunderkammern enthält, in denen man sich endlos verlieren kann. Überhaupt ist Ansteckung der heimliche Untergrund dieser Neugierforschung: Auch Dante, erklärt Manguel, habe sich anstecken lassen, wenn er in Ohnmacht fällt bei den schwachen Wollüstigen oder zornig wird auf den Zornigen – Sünde ist genauso übertragbar wie Imaginationskraft. Dass die Dichter lügen und doch etwas Wahres erzählen, ist das eine; dass sie die Leser auch noch anstecken mit ihren erfundenen Welten, wiegt viel schwerer. Wer über die Quipu-Knotenschrift sinniert, ist schon befallen.
Eine Geschichte der Neugierde. Von Alberto Manguel. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2016.