Das Paradies als Hölle

Bei Juan Villoro wird ein Ferienort zum Sinnbild der  mexikanischen Gesellschaft

Gibt es Hoffnung für Mexiko? Das Szenario, in das Juan Villoro seinen Roman verlegt, lässt daran zweifeln. Der 1956 in Mexiko-Stadt geborene Soziologe, Journalist und Autor liefert mit „Das dritte Leben“ eine literarische, zutiefst pessimistische Analyse der mexikanischen Gegenwart, in der „das Leben keinen Wert besitzt“ und eine „Grammatik des Schreckens, ein Mangel an politischer Teilhabe herrscht“ – so weit, so düster seine Diagnose. Aber beginnen wir am Anfang dieser Geschichte über das „dritte Leben“, das ganz im Zeichen des Todeskultes der Maya-Vorfahren zu stehen scheint, in dem stets diejenigen geopfert werden, die sich „mit den Göttern messen wollen“. Villoro entführt seine Leser in ein trostlos-friedliches Universum, in ein falsches Paradies, das sich im Laufe der Erzählung als wahre Hölle entpuppt.

In einem heruntergekommenen Ferienresort unweit der Maya-Pyramiden von Kukulcán im Norden der Halbinsel Yucatán, hat sich eine Gemeinschaft von gestrandeten Seelen zusammengefunden. Mario Müller und Antonio Gongora, zwei abgehalfterte Musiker der mexikanischen Heavy-Metal-Band „Los Extraditables“ (Die Auslieferbaren), sind nach ihrer wilden Zeit als Rockstars hier auf der Suche nach einem einfachen, ruhigen Leben. Mario, Abkömmling einer vor Langem aus der Schweiz eingewanderten Familie und Geschäftsführer des Pyramide-Resorts, bietet Unterhaltungstourismus der besonderen Art an: Seine Gäste können sich von falschen Guerilleros entführen lassen, um eine Auszeit von ihrem sterbenslangweiligen Alltag zu nehmen. Marios Jugendfreund und ehemaliger Bandkollege Antonio wiederum erholt sich im Resort von seiner langjährigen Drogensucht und versucht, die Erinnerung an sein eigenes Leben wiederzufinden.

Sein Geld verdient er damit, die Bewegungen der Fische im hauseigenen Aquarium per Computer zu vertonen, um den geistesträgen Gästen den Sound zum Bild zu liefern. Mit von der bizarren Partie sind außerdem die aus den USA illegal nach Mexiko eingewanderte Yogalehrerin Sandra, der ehemalige Milizionär und jetzige Sicherheitschef Leopoldo Támez sowie der US-amerikanische Vertreter der Londoner Investorengruppe des Resorts, Mike Peterson. Seinen Gram über ein verpfuschtes Leben, seinen verstorbenen Sohn und seine tot oder heroinsüchtig aus dem Vietnam-Krieg heimgekehrten Freunde ertränkt Peterson im Whisky.

In kurzen dialogischen Sätzen, einem treibenden Sprachrhythmus und mit deftigem Vokabular präsentiert Juan Villoro eine reichlich krude Szenerie zwischen handfester Erotik, traurigen Tropen, Wodka-Ananas, Rockstar-Romantik und Drogenhölle, mit düsteren Erinnerungen und trüben Zukunftsaussichten: eine beißende Persiflage auf eine tieftraurige mexikanische Lebenswelt, in der man „mit bombastischen Illusionen und maßlosen Projekten den alltäglichen Katastrophen entgegentritt“, in der Freundschaften allein dazu dienen, „sich die Langeweile zu teilen“. Im Pyramide-Resort scheint diese Kombination gut zu funktionieren, zumindest lassen der lokale Drogenbaron und seine Kollegen bei der örtlichen Polizei die friedlich dahin­darbende Gemeinschaft in Ruhe, und auch die Investoren aus London melden sich so lange nicht, wie sie aus dem allgemeinen Niedergang des Landes Profit schlagen können. Das fein austarierte Gleichgewicht gerät erst aus den Fugen, als der ehemalige US-Elitesoldat und jetzige Tauchlehrer Ginger Oldenvilles harpuniert auf den kühlen Fliesen vor dem Resort-Aquarium aufgefunden wird, in der Hand eine Schlaufe seiner Hängematte. Wenig später erwischt es einen zweiten Taucher, auch er trägt eine Schlaufe – um sein Geschlecht. Ein Selbstmordkomplott zweier Schwuler, vermutet sogleich der herrische Sicherheitschef Támez und stößt mit seiner allzu einfachen Version allseits auf Zustimmung im dreckigen karibischen Paradies von Kukulcán. Nur Antonio scheint die Wahrheit zu interessieren: Geht es doch um einen Racheakt von Islamisten, oder steckt gar die Drogenmafia dahinter?

Vor dem Hintergrund dieser ebenso grotesk-amüsanten wie grob geschnitzten Kriminalgeschichte entfaltet Juan Villoro das Panorama der mexikanischen Gesellschaft: vom düsteren Todeskult der Maya-Vorfahren, der bis heute das Land regiert, über das Tlatelolco-Massaker von 1968 an den  friedlich in Mexiko-Stadt protestierenden Studenten, bis hin zur zutiefst korrumpierten Gegenwart. Vielleicht hat sich Juan Villoro, der als einer der wichtigsten Kommentatoren Mexikos gilt, dieses Mal etwas zu viel vorgenommen. Seine Leidenschaft für Heavy Metal, eine Parodie auf das heruntergewirtschaftete Tourismusparadies in der mexikanischen Karibik, die Verwicklung internationaler Finanzinvestoren in das Drogengeschäft, eine Mordserie, die zugleich die Mechanismen einer zutiefst maroden Gesellschaft offenbart – das passt kaum zwischen zwei Buchdeckel. Am Ende dieser in den stärksten Passagen dennoch unterhaltsamen literarischen Achterbahnfahrt durch die Untiefen seiner Heimat Mexiko führt Villoro seinen Helden, den geläuterten Rockstar Antonio, zu einem geordneten „dritten Leben“, fernab von Drogen und Gewalt, und wenn alles gut geht, mit einer ernsthaften Liebe. Doch da erkennt Antonio: „Ich bin tot, endgültig.“

Das dritte Leben. Von Juan Villoro. Carl Hanser Verlag, München, 2016.