Über den Dächern der Stadt
Nach dem Arabischen Frühling entstand im Kairoer Problembezirk Matariya ein Kultur- und Beratungszentrum. Wie sich junge Ägypter für ihr Viertel engagieren
Der Bezirk Matariya liegt im Nordosten Kairos, eine halbe Stunde vom Zentrum rund um den Tahrir-Platz entfernt. Steigt man an der U-Bahn-Station El-Matariya aus, erfasst einen die Hektik des lokalen Obst-und-Gemüse-Marktes. Der Geruch von panierten Kichererbsen, Tee und Abgasen liegt in der Luft. Durch eine wuselige Straße hindurch, vorbei an Cafés, Bäckern und Straßenimbissen, führt der Weg zu einem der wenigen historischen Gebäude in der Umgebung. Sein Glanz ist längst vergangen: Der Eingang ist vermüllt, auf der Treppe streunen Katzen. Steigt man hinauf, findet man etwas, was von unten nicht zu erwarten ist: Im obersten Stockwerk, auf der Dachplattform mit Panoramablick über die Stadt, liegen die Räume des ökologischen Projekts des deutsch-ägyptischen Vereins Mayadin al-Tahrir.
Im vergangenen Jahr begannen hier einheimische Freiwillige und deutsche Architekturstudenten mit der Herrichtung von Projekträumen. So entstand nach und nach ein kleines Freiluft-Areal mit Klassenraum, einer Sitzecke und einer Küchenzeile. Eine Dachkonstruktion aus Holz und Bast spendet wohltuenden Schatten. Aus einer mit Müll übersäten Freifläche wurde so ein Stadtteilzentrum über den Dächern des Viertels.
Bereits 2011 gründete der Marburger Germanistikdozent Atef Botros den Verein Mayadin al-Tahrir. Er und seine Mitstreiter waren von der Energie inspiriert, die die Proteste gegen den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak im gleichen Jahr auslösten: „Unsere Vision war es, in Matariya, einem sogenannten Problemstadtteil mit wenig Zugang zu Kultur und Bildung und einer hohen religiösen Prägung, eine Anlaufstelle zu schaffen. Sie sollte eine Bildungsstätte, ein Kulturzentrum und eine Beratungseinrichtung vereinen“, sagt Botros, der selbst Familienangehörige im Viertel hat. Der deutsche Arm des Vereins betreibt als Non-Profit-Organisation in ehrenamtlicher Arbeit von Berlin aus Fundraising und organisiert Veranstaltungsreihen, die sich mit Kunst und Kultur aus Ägypten und anderen arabischen Ländern auseinandersetzen. Regelmäßig gehen Praktikantinnen und Praktikanten aus Deutschland nach Kairo, um das Team in Matariya zu unterstützen.
Keine fünf Minuten von der Dachplattform entfernt liegt die kleine Bibliothek des Vereins. Hier arbeitet der Sozialarbeiter Nasr Ahmed, der die Projekte vor Ort koordiniert und Workshops für Kommunikation und Selbstbewusstseinstrainings für Jugendliche leitet: „Die Kids sind voller Energie und Kreativität. In unserem Projekt möchten wir ihnen den Raum geben, dies auszuleben“, sagt der 35-Jährige. Schüler und Studenten aus Matariya haben das „Bukra-Team“ (arabisch für „Zukunftsteam“) gebildet, das mehr als einhundert Mitglieder umfasst. Auf dem Dach veranstalten sie Open-Mic-Sessions, bei denen jeder, der möchte, rappen oder ein Lied zum Besten geben kann; es gibt außerdem Theatervorstellungen und Filmvorführungen, Animationsfilme sind besonders beliebt. Trotz des hohen Lernaufwands während der ausgedehnten Prüfungsphasen des ägyptischen Schulsystems nehmen sich die Schüler hierfür Zeit.
Ein Großteil der Einwohner Matariyas gehört zur sozialen Unterschicht mit wenig Zugang zu Bildung, die Analphabetenrate ist hoch. Sonntags bis donnerstags betreuen Freiwillige im Stadtteilzentrum vormittags Lese- und Schreibübungen für Frauen und nachmittags Nachhilfe in Arabisch und Englisch für Kinder. In einer Frauen-Sprechstunde werden mittwochs Probleme der Erziehung und des Ehelebens besprochen. Einmal wöchentlich wird für die aus der Schule kommenden Kinder gekocht, ehe es in den Nachmittagsunterricht geht. Auf lange Sicht soll diese Betreuung auf fünf Tage die Woche ausgedehnt werden. Ein weiteres Angebot für Frauen bietet der Koch-Workshop der Ernährungsexpertin Nahla Bakri. Mithilfe von einfachen Rezepten aus natürlichen und bezahlbaren Zutaten soll ein Bewusstsein für nachhaltige und gesunde Ernährung geschaffen werden.
Die Finanzierung ist die größte Herausforderung für den Verein. Von staatlicher Seite ist für das Projekt in Matariya in naher Zukunft keine Unterstützung zu erwarten. Die Aufnahme ins ägyptische Regierungsregister für soziale Organisationen zieht sich bereits seit Monaten hin. Für NGOs ist es in Ägypten derzeit schwer, eine Zulassung zu bekommen. Die Regierung steht solchen Initiativen skeptisch gegenüber, fürchtet einen Kontrollverlust: Denn die Muslimbruderschaft engagierte sich ebenfalls sozial und nahm so Einfluss auf die Politik. „Das ist natürlich frustrierend, aber wir sind hartnäckig“, sagt Botros. Besonders die steigende Akzeptanz und Anerkennung im Viertel lassen ihn optimistisch nach vorn blicken.