Russland

„Russland hat immer gekämpft“

Die belarussische Schriftstellerin über die Ideologie der Gewalt und die Renaissance totalitärer Ideen

In Ihren Büchern erzählen Sie individuelle Lebensgeschichten. Im Kommunismus aber sollten alle gleich sein. Wie haben die Leute das Ende der Sowjetunion erlebt, die neue Freiheit?

Die Menschen sind in einem totalitären System großgeworden, das von einer sehr mächtigen Idee getragen wurde, die nach und nach entartete. Diese Idee barg jedoch viel Romantisches. Vielen Menschen fällt es bis heute schwer, sich davon zu trennen. Zu Beginn der 1990er-Jahre dachten wir, dass schon morgen ein neues, richtiges und aufrichtiges Leben beginnt. Es gab riesige Demonstrationen, alle wollten etwas verändern.

Was ist stattdessen passiert?

Für uns begann ein Leben, das noch härter und rauer war als das vorherige. Es stellte sich heraus, dass auch der Kapitalismus ein menschenfeindliches System ist, jedenfalls in der Variante, in der er zu uns kam. Was den Menschen nach dem Sozialismus in den postsowjetischen Staaten zuteilwurde, erwies sich als steinzeitliches System mit wenigen Gewinnern und sehr vielen Verlierern. Die Menschen sind natürlich sehr enttäuscht von dem, was in den vergangenen 25 Jahren geschehen ist. Sie fühlen sich belogen und betrogen. Sie haben gesehen, wie ein mafiöser Staat entstand. Daher kommt der Hass auf die Eliten und auf alle anderen, auf Amerika, Europa, die Ukraine.

Was geht in den Menschen vor, wie haben sie sich in diesen Verhältnissen eingerichtet?

Sie suchen nicht nach einem neuen System, sondern wenden sich der Vergangenheit zu. Wir, die aus der intellektuellen Elite stammen, haben uns in vielerlei Hinsicht schuldig gemacht, da wir dem Volk keine echten Ideen anbieten konnten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es keine übergreifende Ideologie und auch der Staat besaß keinerlei Macht. Als alle das verstanden hatten, trat die Ideologie der Gewalt in dieses Vakuum. Das wird auch heute noch in Russland propagiert und gepredigt.

Putin ist im Prinzip kein Politiker, er ist ein KGB-Mann. Er denkt wie ein Geheimdienstler. Außerdem wird nach und nach Stalin zurückgeholt. Putin war kaum Präsident, schon wurden Filme über den ehemaligen Diktator produziert und Bücher über ihn veröffentlicht. Wir maßen dem keine Bedeutung bei. Wichtig ist aber, zu verstehen, dass in dieser gegenwärtigen Situation ein noch größerer Zerfall des Landes droht. Diesem kann etwas viel Schlimmeres folgen, ein russischer Faschismus oder Ähnliches.

Konnten denn keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden?

Niemand hat die Vergangenheit aufgearbeitet, nicht so, wie das die Deutschen gemacht haben. Das einzige Museum zum Andenken an die Opfer der politischen Repressionen der Sowjetunion und des Gulags in Perm wurde umfunktioniert in ein Museum, das den tapferen und edelmütigen „Arbeitern“, also den Wächtern, gewidmet ist, die die sowjetische Gesellschaft vor den subversiven Insassen des Lagers bewahrten. Es gibt keine Kultur des Reflektierens. Diese müsste in der Schule und zu Hause kultiviert werden.

Wie verhält sich die junge Generation, die in einem postsowjetischen Russland aufgewachsen ist?

Wir hatten gehofft, dass eine Jugend heranwachsen wird, an die man glauben kann. Bisher gibt es sie nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil. Momentan strömt diese Jugend in die Stadien und schreit: „Wir lieben Putin!“ Sie gibt der ideologischen Beeinflussung zu leicht nach und fließt widerstandslos in den allgemeinen Volkskörper.

Was muss in Russland geschehen, damit sich etwas verändert?

Außer der Zeit kann Russland nichts und niemand verändern. So etwas wie die Proteste 2012 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, bei denen gegen die Präsidentschaftswahlen demonstriert wurde, wird es nicht mehr geben. Die Menschen sind eingeschüchtert. Viele Protestierende wurden verurteilt und sitzen heute im Gefängnis. Der mobile Teil der Gesellschaft entscheidet sich für die Emigration. Russland ist isoliert.

Und es scheint, als würde dies auch für lange Zeit so bleiben. Die gesamte russische Gesellschaft hat sich wieder an die Unfreiheit gewöhnt, wie zum Anfang des Eisernen Vorhangs. Bediensteten der Sicherheitsbehörden wird bereits verboten, ins Ausland zu fahren. Auch ihren Frauen empfiehlt man, das Land nicht zu verlassen. Mit einigen von ihnen habe ich gesprochen, und sie sagten mir, dass das auch richtig sei. Man könne sie benutzen. Ich fragte: „Wer soll euch benutzen und für was?“ Sie antworteten mir: „Alles ist möglich. Wir haben viele Feinde.“

Wie geht die russische Gesellschaft mit der neuen Isolation um?

Wir haben schon immer in einer totalitären, insbesondere aber einer militarisierten und kriegerischen Gesellschaft gelebt, in der das menschliche Leben nur noch eine Kopeke wert ist, wie man bei uns sagt. Entweder wir lebten und kämpften im Krieg oder wir bereiteten uns auf den nächsten vor. Das bedeutet, dass jedes übergeordnete Ziel höher steht als alle Opfer, die gebracht werden müssen. Der Wirtschaft geht es schlecht, die Sanktionen beginnen zu wirken. Auch der Krieg in der Ukraine kostet viel Geld. Worüber wird gesprochen? Darüber, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss. Was sagen die Leute? „Wenn wir auch einen leeren Kühlschrank haben, aber die Krim gehört uns!“

Woher, glauben Sie, kommt diese Haltung?

Der Russe ist ein kriegerischer Mensch. Er hat komplett andere Vorstellungen. Wenn wir uns die Geschichte des 19. Jahrhunderts ansehen, dann wird ersichtlich, dass Russland immer gekämpft hat. Das waren ausschließlich Eroberungskriege. Selbst der Zweite Weltkrieg wurde auch von Stalins Handlungen provoziert: Gemeinsam mit Hitler teilte er Polen und dachte, er könnte zusammen mit ihm die ganze Welt beherrschen.

Welche Gefühle verbinden Sie persönlich mit dem Ukraine-Konflikt?

Dass Brüder gegeneinander kämpfen, ist das Unglaublichste und Unwahrscheinlichste, was man sich vorstellen kann. Ich bin erschüttert, dass das imperiale Bewusstsein in Russland sich als derart gewaltig erweist und bis jetzt nicht verschwunden ist. Nichts, nicht einmal die Gulags, in denen viele Russen unter Stalin leiden mussten, konnte die Menschen verändern. Sie kehren geistig immer wieder dorthin zurück. Und wieder wird ein neues Stalin-Museum eröffnet und die alten Porträts aufgehängt.

Am 8. Dezember 2013 stürzten Demonstranten das Lenin-Denkmal im Stadtzentrum Kiews. Hat zumindest die Ukraine mit ihrer Vergangenheit gebrochen? Welche Perspektiven sehen Sie für das Land?

Man kann nur hoffen, dass Russland die Ukraine und auch Belarus aus seiner Umarmung entlässt. Aber momentan hält es noch mit festem Griff daran fest, und niemandem gelingt es bisher, sich diesem Einfluss zu entziehen. Als ich in der Ukraine war, sah ich allerdings Menschen, die selbst nach mehreren fehlgeschlagenen Revolutionen und Aufständen den Glauben daran nicht verloren hatten, dass sie selbst das Schicksal des Landes in die Hand nehmen können. Das ukrainische Volk besitzt eine Tradition des Widerstandes. Ich denke, dass die Ukraine der erste der ostslawischen Staaten ist, der wirklich das Potenzial hat, Veränderungen voranzutreiben, wie es zum Beispiel im Baltikum und in Polen geschah.

Haben Sie einen Traum für die Zukunft?

Selbstverständlich. Ich würde gerne in einem freien Staat leben, in einem freien Belarus, angefangen mit einem freien Russland als unserem Nachbarn. Aber bis jetzt hat man uns allen diese Hoffnung genommen.

Das Interview führten Diana Klie und Fabian Ebeling