„Russische Frauen werden unglaublich gedemütigt“
Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja über fehlende Männer, dysfunktionale Familien und Frauen, die sich um alles kümmern müssen. Ein Gespräch
Wie fühlen Sie sich derzeit in Russland?
Wir leben in einem Land, das von einem patriotischen Rausch erfüllt ist und hofft, dass wir morgen schon die ganze Welt besiegen können. Davon nähren sich laut Umfragen die 86 Prozent der Russen, die die Politik Wladimir Putins unterstützen. Die anderen, die die aggressive Politik der Regierung nicht gutheißen, sind schlecht gestimmt. Ich versuche von den Geschehnissen in meinem Land Abstand zu nehmen. Ich arbeite zu Hause, ab und zu gehe ich joggen.
Trotzdem brachten Sie kürzlich Ihre Erschütterung über den Tod Boris Nemzows in einer Videobotschaft zum Ausdruck.
Wie Sie wissen, gab es einen politischen Mord, einen Mord an einem Menschen, der vielen sehr nahe stand. Boris Nemzow war eine hoch geachtete Persönlichkeit und ein charmanter und sympathischer Mensch. Sein Tod ist ein großer Verlust.
Wie ist es als Schriftstellerin, unter solch schwierigen Bedingungen Bücher zu schreiben?
Für mich spielt das beim Schreiben überhaupt keine Rolle. Ich bin eigentlich ein Mensch, der sich von der Politik abgewendet hat. Ich bin ausgebildete Genetikerin. Daher fand ich es schon immer interessant, wie der Mensch an sich aufgebaut ist, wie er sich bewegt, was seine Seele ausmacht, wie er heranwächst, wie er Großtaten vollbringen oder Verbrechen begehen und abstürzen kann.
In Ihren Werken spielen Frauen eine besondere Rolle.
Ja, ich bin überzeugt, dass Frauen die bessere Hälfte der Menschheit sind. Auf jeden Fall stimmt das für die Frauen in Russland.
Warum denken Sie das?
Das Leben der Frauen in Russland ist sehr schwer, viele von ihnen müssen ein Leben ohne Männer führen. Ein Teil unserer Männer kämpft an irgendeiner Front, nicht zwingend an der ukrainischen, sondern auch in Moldawien oder Tschetschenien. Andere sitzen in Gefängnissen oder fallen dem Alkoholismus anheim. Bei uns gibt es sehr viele unvollständige und dysfunktionale Familien. Viele meiner Freundinnen wuchsen ohne Väter auf. Inzwischen gibt es nicht wenige junge Frauen, die aus Prinzip nicht heiraten und überzeugt sind, dass man Kinder aufziehen kann völlig ohne die Unterstützung eines Mannes. Russische Frauen sind sehr starke Persönlichkeiten und werden gleichzeitig unglaublich gedemütigt.
Was macht Frauen in Russland stark?
Es macht sie stark, dass sie auf niemanden zählen können. Für Frauen, die nach der Logik der drei „K“s erzogen wurden – Kinder, Kirche, Küche –, ist das Leben sehr beschränkt. Eine russische Frau hat in der Regel Kinder und dazu hat sie Eltern, um die sie sich kümmert. Und dann kommen noch Enkel dazu. Um all das zu finanzieren, gehen viele Frauen arbeiten.
Dennoch wird das Land von Männern regiert.
Ja, und sie regieren es schlecht. Wenn wir in unsere Ministerien und in das Parlament schauen, dann sehen wir in den Führungspositionen all diese wohlgenährten Staatsbeamten. Ich bin keine Feministin. Aber ich denke, dass ein höherer Frauenanteil auch in der Führung von Unternehmen von Vorteil wäre.
In welcher Verfassung ist die russische Seele heute?
Diesen Ausdruck kann ich nicht ausstehen! Ich halte es für gefährlich, über dieses Thema zu sprechen, weil ich Jüdin bin und einer Minderheit angehöre, der in Russland nicht viel Sympathie entgegengebracht wird. Die russische Seele ist eine Legende. Mittlerweile nennt man sie „Russkij mir“ („Russische Welt“). Sie gründet sich auf die Idee, die russische Seele unterscheide sich von allen anderen Seelen und das selbstverständlich nur im positiven Sinne.
Dieser Mythos ist äußerst ungesund für unser Land. Denn wenn wir uns weiter vom Rest der Welt abgrenzen, lassen wir diese eiserne Mauer, die, mal durchsichtiger, mal undurchdringlicher, zwischen West und Ost steht, stärker werden. Mir wäre es lieber, wenn wir uns weniger von der Menschheit unterschieden und sich unser Lebensniveau dafür mehr an das europäische angleichen würde.
Das Interview führten Timo Berger und Diana Klie