Russland

Rom als Vorbild

Wie der Kreml in der Architektur seine Macht demonstriert

Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist in der Architektur in Russland zweimal der Klassizismus aufgetaucht. Diese europäische beziehungsweise römische Architektur zeigte sich zuerst in den 1990er-Jahren durch eine Invasion von Bögen, Portiken und Säulen mit prunkvollen Kapitellen. Diese fröhliche Klassik sah man vereinzelt überall, besonders entzückend aber auf den Anwesen in den Vororten und sichtbar am Baustil der Datschen. Um Moskau herum entstanden überall kleine Schlösser, eines schöner als das andere. Dieses antike Getümmel nahm sich meist recht komisch aus, aber das kümmerte die neuen Patrizier kaum. Hauptsache, sie konnten nach der langen sowjetischen Askese, die jegliche Demonstration von Prunk verboten hatte, ihren Status demonstrieren.

Heute ist die Schwärmerei für Rom anders. Nicht der einzelne Bürger, sondern der Staat als Ganzes richtet sich nach dem klassischen Bild aus. Systematisch entstehen Portiken, Kapitelle oder Skulpturen. Es geht darum, Symbole einer neuen Stabilität, einer neuen Imperatorentradition zu zeigen. In den 1990er-Jahren hat Moskau seine Possen mit der Klassik getrieben und den Beobachter mit einer absurden Üppigkeit antiker Vorbilder verblüfft. Jetzt wirkt der Neoklassizismus ernster und fader.

Das ist logisch, denn die Gefahr eines neuen „Pugatschow-Aufstands“ zeichnet sich ab. Der Kosake Jemeljan Pugatschow hatte im 18. Jahrhundert einen Bauernkrieg gegen die Zentralregierung angeführt. Das Leben in Russland ist heute voller Kontraste: Reichtum erblüht neben Armut. Eine neue Ständegesellschaft ist kurz davor, sich zu bilden. Es riecht nach einem neuen Aufstand. Das glaubt man in den unterschiedlichsten Kreisen – in der Regierung, der Kirche oder bei den Nationalisten. Man kann davon ausgehen, dass die heutigen Kremlherrscher nichts Wichtigeres zu tun haben, als diese Bedrohung abzuwehren.

Hinter der Rückkehr zum Klassizismus verbergen sich der Wunschtraum von einem großen ordnenden Stil und gleichzeitig die Angst vor einem Aufstand. Der Architekt hört diesen verborgenen oder offensichtlichen Auftrag und führt ihn aus. Er holt das verstaubte Kurvenlineal, schlägt Großvaters Fotoalben auf und macht sich an die römische Bauskizze.

Aus dem Russischen von Franziska Zwerg