Körpersprache

Wie Voodoo-Rituale und Pina Bausch mich zu dem Tänzer machten, der ich heute bin

Als ich 16 Jahre alt war, sah ich, wie auf dem Hof meines Großvaters in Dékanmey, einem Dorf im Süden Benins, einem Huhn die Kehle durchgeschnitten wurde. Das war Teil eines Voodoo-Rituals. Das Blut stieß mich so ab, dass ich seither einen Bogen um alles mache, was mit diesem Kult zu tun hat. Dabei hatte mich Voodoo als Kind fasziniert, der Rhythmus und die Gesänge. Wie ein Fetisch zum Leben erwacht und Raum einnimmt, interessiert mich heute aber als Tänzer.

Mein Großvater war ein König. Mein Vater ist ein Prinz, der nie König wurde, weil die Dynastie in einem anderen Familienzweig fortgeführt wurde. Das stellte sich heraus, als meine Mutter mit mir schwanger war, und sie beendete die Beziehung. Die ersten Jahre lebte ich bei ihr in Cotonou, der größten Stadt Benins. 1988, als ich sechs Jahre alt war, nahm mich mein Vater zu sich nach Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo, wo er eine Konditorei führte. Er erzog mich streng katholisch.

Mit den anderen Kindern draußen ließ mich mein Vater selten spielen. Aber wenn er nicht da war, habe ich die Straßen von Brazzaville erkundet, wo es sehr lebhaft zugeht: Man trinkt, man singt, man regt sich auf, man verträgt sich wieder. In der Schule war es schwierig, denn weil ich aus Benin stammte, wurde ich als „West-Af“, West-Afrikaner, geneckt. Vieles, was ich während dieser Zeit beobachtete, nährte den noch nicht erwachten Künstler in mir und fließt nun in meine Tanzsprache ein: die kindlichen Spiele, das Gestikulieren auf den Straßen oder wie sich Schüler in Gruppen bewegen.

Dann kamen in den 1990er-Jahren, als ich etwa zehn war, die Unruhen in den Kongo. Wir versteckten uns im Haus, aber irgendwann musste man hinaus und Lebensmittel suchen. Auf den Straßen stieg man über tote Körper, sah Fliegen und Blut.Das ist wohl der Grund, warum ich das Blut beim Voodoo nicht mehr ertragen konnte, als ich 1997 nach Benin zurückkehrte. Beim Beniner Kulturinstitut ORIculture entdeckte ich dann den zeitgenössischen Tanz: Bewegung, die eine Botschaft in sich trägt.

Als 19-Jähriger begann ich dort zu tanzen und studierte nachts online die Arbeiten von Pina Bausch, William Forsythe oder Sasha Waltz. Die anderen Tänzer haben über mich gelacht: „Du hast keinen Rhythmus, du bist ein falscher Beniner, ein Entwurzelter“, sagten sie. Afro-Tanz habe ich nie gelernt und Ballettkurse gab es nicht. Also fand ich meine eigenen Bewegungen. Als ich 2006 mein erstes Solo zeigte, merkten die Leute auf: Ich trug dabei sechs Hemden und acht Hosen übereinander, die ich beim Tanzen nach und nach ablegte. Das hatte wenig mit traditionellem Afro-Tanz zu tun.

Dank eines Stipendiums der französischen Botschaft traf ich bei einem Kurs an der École des S­ables im Senegal andere afrikanische Tänzer. Die Akademie ist die einzige in Afrika, an der man seit 1998 zeitgenössischen Tanz lernen kann. Während eines Festivals präsentierte ich dort „Et si“, ein Solo über die tierischen Seiten des Menschen. Das Stück war mein Durchbruch.

Der kongolesische Choreograf Andréya Ouamba engagierte mich daraufhin für sein Ensemble. Ich fing an, auf Tourneen überall auf der Welt zu gehen, in die USA, nach Deutschland und Brasilien. Dort entstand auch mein Stück „Vodoun“, in dem es um Kindheit in den Favelas in Brasilien und in Benin geht. 2008 gründete ich in Cotonou mit einer Kollegin das Tanzzentrum Multicorps. Benin braucht Tänzer, aber es gibt kaum Aufführungsorte, weshalb viele Choreografen für Europa und die USA produzieren. Wir sollten stattdessen auf die Märkte gehen und die Menschen mit schockierenden Darbietungen aufrütteln, damit sie begreifen, was diese Kunst bedeutet.