Im Reich der dunklen Mächte
Was das heutige Russland und die Welt von Harry Potter gemeinsam haben
Das einzige großartige Buch, das wir heute haben, ist das Epos von Harry Potter. Das heutige Russland ist wie die Welt von Harry Potter, das heißt, wir Menschen sind Muggel, und an einem Ort, zu dem man über das Gleis 9?¾ gelangt, gibt es ein ganz anderes Leben, dort herrschen andere Gesetze und junge Zauberer fliegen unter Aufsicht betagter Magier auf Besen, spielen ihre seltsamen Spiele, schicken einander Eulen und zähmen Drachen.
Oder vielleicht sind da auch keine Eulen oder Drachen – schließlich sind wir Muggel, wie können wir das wissen? Und wer von uns dorthin gelangt, wird uns einfach nichts erzählen. Er fliegt auf einem Besen vorüber und beachtet uns nicht einmal.Wenn man uns gewöhnliche Russen für Muggel hält, dann muss die Welt der Zauberer die der Staatsgewalt sein. Ein großes, altes Schloss, Hogwarts, ist der wichtigste Ort in der Welt der Zauberer, das Zentrum dieser Welt. In Russland gibt es fast keine großen, alten Schlösser, aber die Betonung liegt auf „fast“. Mindestens ein erhaltenes und funktionierendes gibt es doch. Das russische Hogwarts ist ein großes, altes Schloss, hinter dessen hohen Mauern sich ein für uns unsichtbares, magisches Leben abspielt und das für Muggel vor allem eine touristische Sehenswürdigkeit darstellt.
Wenn man daran vorbeigeht, sich am Luxuskaufhaus GUM stehend davor fotografiert oder sogar hineingeht, um die Waffenkammer oder ein Konzert zu besuchen, wird man trotzdem nichts sehen oder bemerken. Es fahren keine Züge dorthin, und wahrscheinlich ist das ursprüngliche Szenario an dieser Stelle ein wenig zu ändern – bei uns ist es kein Gleis, sondern der Eingang Nummer 9?¾. In jene Welt gelangt man bei uns über solche Hauseingänge.
Dies unterscheidet uns von den Engländern. Sie sind seit fünfhundert Jahren daran gewöhnt, ihre Rasenflächen zu mähen. Wir aber haben den Rasen gerade erst ausgesät, das Gras steht noch nicht hoch. Hogwarts und das Zaubereiministerium hat es immer gegeben, und niemand könnte sich an Zeiten erinnern, als es sie noch nicht gab. Bei uns ist es anders, und darauf sind wir sogar stolz; wer in seiner Kindheit die Nachkriegsausgaben der Bücher von Samuil Jakowlewitsch Marschak (Verlag Detgis) besaß, der erinnert sich an das Gedicht „Höher als der Wald, älter als das Meer“, in dem Marschak sich schlichtweg daran berauscht, dass die Kinder des späten Stalinismus in den Naturkundestunden selbst Wälder anpflanzen und ihre Eltern an der Stelle von ehemaligen Wäldern und Steppen riesige Stauseen ausheben.
Nichts ist ewig, nichts ist echt. In zutiefst kontinentalen Städten wie Nowosibirsk nimmt sich das besonders gespenstisch aus, wenn in Gegenden nahe der Stauseen alle Straßen Namen wie „Küstenweg“ tragen und an den Laternenpfählen und öffentlichen Einzäunungen verwitterte Meeressymbolik prangt: Anker, Fische, Kapitänsmützen. Dabei wissen alle nur zu gut, dass das kein Meer ist, sondern nur eine riesige Grube, in die das Wasser aus dem Ob abfließt. Da haben wir das Russland des 20. Jahrhunderts.
Wie die Welt unserer Zauberer entsteht, das wissen wir auch, wir haben eine Weile ohne sie gelebt. Entgegen der gängigen Ansicht hat diese Welt nichts mit der Staatsgewalt früherer Zeiten zu tun, weder der sowjetischen noch gar der vorsowjetischen. Stalin war Gott – von mir aus, er mag Gott gewesen sein, aber jeder kannte mindestens einen Bekannten von einem Bekannten, der diesen Gott gesehen oder sogar mit ihm gesprochen hat (es gibt jede Menge Legenden zum Thema „Da blieb ich über Nacht im Betrieb im Empfangszimmer des Direktors, und da klingelt es – Genosse Stalin ist am Apparat“). Das heißt, auch Gott war erreichbar, und alle späteren Machthaber, einschließlich der obersten Führer, waren nur gewöhnliche Menschen, gewöhnliche Muggel.
Die obersten Führer von Chruschtschow bis Gorbatschow haben ihre Zeitgenossen ja gerade deswegen so verärgert, weil diese völlig gewöhnlichen Kerle sich weiß der Teufel wie aufführten und überheblich waren. Aber zumindest waren sie die obersten Führer. Auf der Ebene der Gebiets- oder Bezirkskomitees war es völlig in Ordnung, sogar den herrschenden Ersten Sekretär anzubrüllen oder zum Teufel zu schicken. Geht man nach gewissen Memoiren und erst recht nach den Akten, gab es in den politischen Straflagern der 1970er- und 1980er-Jahre bemerkenswerterweise überhaupt niemanden mehr, der deswegen dorthin geraten war, weil er jemanden angebrüllt oder zum Teufel geschickt hatte. Wenn man in der poststalinistischen Zeit aus politischen Gründen ins Gefängnis wandern sollte, musste man ein deutliches Minimum an Bedingungen erfüllen – Verbreitung von Druck-Erzeugnissen, Teilnahme an Protestaktionen, Beziehungen in den Westen. Erfüllte man diese Bedingungen, ging’s ins sowjetische Arbeitslager Perm-36 in Sibirien, wenn nicht, konnte man es sich durchaus erlauben, folgenlos beim Vorsitzenden des Stadtvollzugskomitees reinzuplatzen, sich ohne Aufforderung hinzusetzen und sogar zu rufen: Das ist nicht Ihr Zimmer, es gehört dem Staat, und Sie stehen in der Pflicht! Überhaupt klang das „Sie stehen in der Pflicht“ in Bezug auf Vertreter der Staatsgewalt bis 1991 durchaus normal und nicht wie ein Witz oder eine Schrulligkeit. Sie standen in der Pflicht, ja, wenn auch nur auf dem Papier, so lautete bis 1991 der Gesellschaftsvertrag. Bis 1991 war die Welt noch einheitlich, da gab es kein Hogwarts. Und einige Jahre danach ebenfalls nicht.
Der erste Band der Harry-Potter-Reihe erschien 1997 auf Englisch, drei Jahre, bevor die Mehrheit bei uns ihn zu lesen bekam (angeblich gab es in Moskau Kinder, die die Neuerscheinungen sofort und im Original lasen – ich denke, diese Kinder leben längst in Amerika). Und in diesem Jahr – wobei ich nicht weiß, ob das eine Koinzidenz ist oder nicht – fing das alles an. Es kamen also irgendwelche wichtigen, unsichtbaren Schichten in Bewegung, und irgendwer sägte ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die Konturen des Eingangs Nummer 9?¾ in die Mauer.
Das war natürlich auch im Fernsehen so. In der Sendung „Wsgljad“ („Der Blick“) zeigte man auf dem Höhepunkt des ersten Tschetschenienkriegs einen riesigen Beitrag über die föderalen Streitkräfte. Dann waren die Protagonisten solcher Beiträge im Studio und der Moderator fragte sie, was sie in diesem Krieg erreichen wollten, woraufhin ein Major oder wer auch immer zunächst vielsagend schwieg, als suche er nach Worten, um schließlich zu äußern: Also wissen Sie, über solche Dinge denken wir eigentlich gar nicht nach, wir sind einfach Menschen des Staates, und wenn es nötig ist, dann ist das eben so, da gibt es keine Diskussion.
Später dann klang in der Sendung „Wsgljad“ die Wendung „Menschen des Staates“ wie ein Mem, als es auf diese neue Klasse wortkarger Kerle angewandt wurde, denen jegliche intellektuelle Schwafelei fremd war und die, wie es in einem bekannten Lied heißt, alles nur dafür taten, dass das Heimatland erblühe. So weit das Fernsehen.
In der Realität, wie wir sie empfanden, gab es (nicht statistisch gesehen, aber hinsichtlich der eigenen Bekannten und der Bekannten von Bekannten) einen Ansturm auf Milizschulen, und die halbtoten Parteihochschulen belebten sich neu, man nannte sie jetzt Akademien des öffentlichen Diensts, und, was am anschaulichsten war: Es kamen recht schnell und merklich Menschen in Bewegung, die man wohl als sozial instabile Menschen bezeichnen sollte.
Mit sozial instabil sind nicht Obdachlose oder Lumpenproletarier gemeint. Das sollten wir klarstellen: Es gibt ja eine klare Vorstellung davon, wer sozial stabil ist. Nehmen wir einen Arzt. Er war vor hundert Jahren schon Arzt und in hundert Jahren wird er immer noch Arzt sein und dann geht er in Rente und arbeitet nebenher wiederum halbtags als Arzt. Beim instabilen Menschen ist es umgekehrt. Ein instabiler Mensch war irgendwann untergeordneter wissenschaftlicher Mitarbeiter und handelte nebenher vielleicht mit irgendetwas, und als es dann möglich wurde, schaffte er Waren aus Polen heran und organisierte außerdem Konzerte im Kulturhaus und half in der Schule bei der Renovierung. Schließlich jedoch zog er einen Kaschmirmantel an und kaufte sich ein schickes Auto, aber was er nun beruflich macht, weiß keiner. Oder irgendeine Nachbarin, vollgehängt mit Goldschmuck, aber weiß der Teufel, woher sie das Gold hat, wenn sie nirgendwo arbeitet.
Anscheinend lebt ihr Sohn im Fernen Osten, aber vielleicht hat sie auch keinen Sohn, das wissen wir nicht. Oder das Mädchen aus der Parallelklasse, deren Vater zur See fuhr, wie wir uns erinnern. Und dann arbeitete er bei einer Tankstelle, eröffnete daraufhin ein Café, und jetzt ist er Manager in einem Autohaus – das ist mit dieser sozialen Gruppe „unklar, wer“ gemeint. Und dann fingen sie irgendwann 1996 bis 1997 alle wie Lachse beim Laichen an, sich in dieselbe Richtung zu bewegen, und tauchten dutzendweise einer nach dem anderen auf – der eine als Zollbeamter, der andere als Steuerfahnder, wieder ein anderer kam vom Katastrophenschutz oder vom Morddezernat. Wenn man das erste Mal die als Kantinenköchin bekannte Frau in einer Uniform sah, deren Schulterklappen über den Leutnantsrang hinauswiesen, hielt man das für eine Kuriosität, aber bei zehnten Mal dachte man sich schon – hey, was geht hier vor?
Das ging hier vor: Man konnte zusehen, wie die Welt der Menschen des Staates die mittlerweile unverbrüchlich scheinenden Umrisse und Formen annahmen. Trägt jemand Schulterklappen – dann hat er eine schöne Wohnung und ein Auto, die Kinder haben eine Stelle und (das wurde sehr schnell Teil des Basispakets) dazu kommt eine Immobilie im Ausland und auch sonst alles. Da lernt man im Park junge Frauen kennen, schleppt sie ab in ein Restaurant, aber man hat schon getrunken und wird nicht reingelassen. Und da holen die Frauen ihre Klappausweise raus – Dienstmarken entweder vom Zoll oder von der Steuerbehörde – und schon ist Schluss mit der Facecontrol, wir sitzen am Tisch, trinken weiter, und wenn man sie so anschaut, sind es ganz normale Weiber unseres Alters, wieso haben die Klappausweise? Das kann nicht sein! Das war doch früher nicht so, aber das ist nur der Anfang, und ein Jahr später werden diese Mädels ihren eigenen Park haben.
Und ein, zwei Jahre später gibt es vor den Toren der Stadt auf einmal ein „Erholungsheim der Sberbank“, der größten Bank Russlands. Das ist ein teurer, pathetischer Ort, zu dem Muggel nicht nur keinen Zutritt haben, es würde einem Muggel erst gar nicht in den Sinn kommen, dorthin zu fahren. Dort feiert der Vizegouverneur seinen Geburtstag, und Zeremonienmeister ist ein angesagter Schauspieler aus der Kult-Krimiserie „Brigada“, die 2002 ausgestrahlt wurde. Und das alles sind nur Erinnerungen daran, wie es begann: Menschen, die vorher Argumenty i Fakty lasen, die auflagenstärkste Wochenzeitung zu Zeiten der Perestroika, lasen, haben jetzt ständig die Rossijskaja gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, auf dem Tisch liegen. Es gibt neuerdings eine Abteilung des Bevollmächtigten Vertreters des Präsidenten in der Stadt, und die ist auf einmal wichtiger als die Gebietsverwaltung. Die Regionalverwaltung des Inlandsgeheimdiensts FSB wird renoviert, und nun sieht das schäbige, sowjetische Gebäude auf einmal aus wie ein modernes Büro. Und gegenüber auf der anderen Straßenseite eröffnet das Café „Die Herren Offiziere“.
Die Welt der Menschen des Staates schien bis zu einem bestimmten Moment noch Teil unserer gewöhnlichen Welt zu sein, aber mit der Zeit wurde immer offensichtlicher: Dass sie eine Parallelwelt mit eigenen Gesetzen, eigenen Gewohnheiten, einer eigenen Ästhetik und eigenen Sitten ist. „Euch schenken die Eltern Süßigkeiten zum Geburtstag und wir bekommen ein Auto“ lautet das wörtliche Zitat aus einem Shitstorm im Jahr 2004, der sich auf einem LiveJournal-Blog entfachte, und der derart Beschenkte war Sohn eines Gebietsbeamten. Wie sich zeigte, waren zu Beginn der Nullerjahre, als Putin das Präsidentenamt übernahm, wieder von irgendwoher Majore aufgetaucht, und damals unterhielten sie sich noch mit uns, aber das hörte später gänzlich auf.
Wenn man Russland im Jahr 2015 an dem Buch misst, das einzig und wahrhaftig uns gehört, dann ist es eine Welt, in der es Muggel gibt, denen Magie fremd ist. Und die Parallelwelt dazu ist die der Magier, in der man auf Besen mit Blinkleuchten fliegt, Drachen zähmt, sich gegenseitig mit Orden und Frauen belohnt, seinen Leidenschaften frönt und nach eigenen Regeln lebt, und wenn jemand diese Welt über Auffahrt 9?¾ betritt, dann kommt er nicht mehr von dort zurück, und falls doch, wird er uns nicht grüßen und uns nichts erzählen.
Diese Welt entstand in Russland im Laufe von knapp zwanzig Jahren. Das ist unsere Magie, eine andere haben wir nicht und werden sie wohl kaum bekommen.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg