Haben sie dich besiegt?
Wie meine Freundin Olga ihre Heimatstadt verändern wollte – und am Ende kapitulierte
Ich lebe in Jaroslawl. Das ist eine Bezirksstadt in der Nähe von Moskau. Vier Stunden Zugfahrt, und du bist in der Hauptstadt. Viele Jaroslawler arbeiten in Moskau, viele ziehen ganz dorthin, viele kehren zurück. Zu Letzteren gehöre auch ich: Nach zehn Jahren in der Hauptstadt bin ich letztes Jahr wieder nach Jaroslawl gezogen, wo ich aufgewachsen bin. In Moskau zu leben ist schwer und unbequem, vor allem mit Kindern: Es ist zu laut, zu schmutzig, zu bevölkert.
In Jaroslawl leben nur 600.000 Menschen. Die Stadt ist schon tausend Jahre alt. 1918 fand hier ein Aufstand gegen die Sowjetmacht statt, der einzige im ganzen Land. Und nur in Jaroslawl wurde 2012 allen Manipulationen der Partei „Einiges Russland“ zum Trotz ein Oppositionspolitiker zum Bürgermeister gewählt wurde. Der Aufstand von 1918 wurde nach zwei Wochen niedergeschlagen, der unabhängige Bürgermeister hielt sich ein Jahr. Dann wurde er aufgrund falscher Anschuldigungen verhaftet und sitzt noch immer hinter Gittern.
Außerdem war die Duma von Jaroslawl der letzte Arbeitsplatz des kürzlich ermordeten Boris Nemzow. Dennoch ist das Verhältnis zwischen „Patrioten“ und Menschen, die der Regierung gegenüber kritisch eingestellt sind, das gleiche wie in anderen Städten Russlands, Moskau und Sankt Petersburg ausgenommen. Unter den 600.000 Einwohnern finden sich höchstens tausend „Andersdenkende“.
Wie überall in Russland gibt es auch in Jaroslawl keine öffentlichen Orte, wo sich Menschen zwanglos treffen könnten. Doch zufällige Begegnungen auf der Straße und im engen Freundeskreis genügen nicht, um in Verbindung zu bleiben. Darum engagierte sich eine Freundin von mir vor einigen Jahren dafür, einen solchen öffentlichen Ort in Jaroslawl einzurichten. Sie mietete von der Stadt eine alte Fabrikhalle an und versuchte, daraus ein Kulturzentrum zu machen.
Eigentlich ist Olga* Tänzerin und Theoretikerin des modernen Tanzes. Sie hat die ganze Welt bereist und an zahlreichen Projekten mit europäischen Künstlern teilgenommen. Beeindruckt vom Komfort europäischer Städte, ihrer Orientierung auf den Menschen und seine alltäglichen Bedürfnisse, wollte Olga auch ihre Heimatstadt in dieser Richtung verändern. Just zu einer Zeit, da alle kreativen und künstlerischen Menschen aus der Provinz in die Hauptstadt flohen. Olgas Haltung war eine andere: Suche nicht nach einem Ort, wo es besser ist, sondern mache den Ort, wo du lebst, besser. Inzwischen hat sich Jaroslawl spürbar verändert. Aus der einstigen geistigen Einöde ist eine Stadt geworden, in der ständig Interessantes stattfindet: Festivals, Vorträge, Konferenzen ... Viele, die Jaroslawl verlassen hatten, kehren zurück. Die Menschen, die sich um Olga scharen, leben nach und nach auf. Erst beteiligen sie sich an Olgas Projekten, dann denken sie sich auch eigene aus. Olgas Engagement hat nichts mit Politik zu tun, ihr geht es nicht um einen Posten in den Machtstrukturen, obwohl sie durchaus eine klare staatsbürgerliche Haltung hat, die sie in ihren Blogs und bei den in der Provinz relativ seltenen Aktionen der Opposition auch ohne Scheu äußert.
Optimist zu sein und dabei Realist zu bleiben ist in Russland sehr schwer. Aber Olga war immer eine Optimistin. Doch seit Beginn der Ukraine-Krise hat sich Olgas Stimmung gewandelt. Ich treffe Olga jeden Tag, denn unsere Kinder besuchen denselben Kindergarten, und ich sehe, wie ihr Enthusiasmus allmählich erlischt. Um ihre Stadtprojekte durchzusetzen, musste Olga stets den Widerstand der staatlichen Bürokratie überwinden. Jedes Projekt muss mit der Stadtverwaltung abgesprochen werden, und den Beamten klarzumachen, wozu beispielsweise ein Lesefest für Kinder gebraucht wird, ist nicht so einfach.
Doch seit Beginn des Krieges in der Ukraine gilt jede Aktivität, sei sie noch so unpolitisch, als verdächtig. Praktisch sämtliche Vorschläge von Olga wurden plötzlich im Keim erstickt. „Bei uns in der Stadt und im ganzen Land werden jetzt nur noch Dinge stattfinden, die vom Staat initiiert werden, ihr seid zu selbstständig geworden, demnächst organisiert ihr womöglich noch einen Maidan“, sagte ein Beamter in einem privaten Gespräch zu Olga.
Es ist schwer, etwas zu tun, wenn man ständig von oben behindert wird. Doch man kann alles überwinden, wenn man von Gleichgesinnten unterstützt wird. Aber die Jaroslawler „Andersdenkenden“ reden nun nur noch darüber, wie und wohin sie aus diesem Land fliehen können, an dessen Zukunft inzwischen niemand mehr glaubt.
Olga hatte sich immer an dem Gedanken festgehalten, dass ihre Arbeit von anderen gebraucht wird. Nicht nur von Gleichgesinnten, sondern auch von den einfachen Einwohnern der Stadt. Jetzt ist dieser Halt weggebrochen. Die Hasspropaganda im Fernsehen weckt die niedersten Instinkte der Menge, darunter die Aggression gegen alles, was anders ist.
Natürlich waren Olga und Menschen wie sie immer weiße Krähen, doch nun äußert sich die Feindseligkeit ihrer Umgebung gegen sie nicht nur in schiefen Blicken. Vor kurzem hatte Olga eine Fotoausstellung auf der Hauptstraße organisiert. Unbekannte zerstörten sie noch am selben Abend. Das nächste Projekt war eine Straßenbibliothek – die Bücherregale wurden samt allen Büchern in der Nacht nach der Eröffnung verbrannt. Ein Spielplatz in einem Problembezirk, geschaffen von Freiwilligen und Kindern, missfiel wachsamen Rentnerinnen. Einfach, weil er anders aussah als die eintönigen und langweiligen Standardspielplätze. Die Rentnerinnen schrieben eine Beschwerde, und die Beamten schickten am selben Tag einen Bulldozer und ließen den Spielplatz dem Erdboden gleichmachen.
Kraft und Inspiration schöpfte Olga auch aus der Zusammenarbeit mit europäischen Kollegen. Vor kurzem wurde sie ins Zentrum zur Unterstützung nicht kommerzieller Organisationen bestellt und inoffiziell ermahnt, dass es keine gemeinsamen Projekte mit Ausländern mehr geben dürfe, ja nicht einmal private Treffen. „Sonst blüht Ihnen die spezielle Aufmerksamkeit von bekannter Stelle und mindestens die Schließung Ihrer Organisation“, warnte man Olga, die gerade eine russisch-schwedische Konferenz zur Stadtentwicklung vorbereitete.
Die Schweden kamen dennoch nach Jaroslawl. Und eine Woche später wurde Olga in der Bank, mit der sie zusammenarbeitet, darauf hingewiesen, auch dies inoffiziell, der Inlandsgeheimdienst FSB habe Einsicht in sämtliche Konten ihrer Organisation verlangt. Gleichzeitig begannen anonyme Anrufe von „besorgten Bürgern“ mit Beschwerden über Olga – im Tanzstudio, das sie leitet, im Kindergarten ihres Sohnes, beim Jugendamt … Allgemeiner Tenor dieser Denunziationen: Olga sei sozial gefährlich, denn sie vermittle „fremde Werte“ … Und das ist das Ergebnis: Vor kurzem erklärte mir Olga, die seit langem deprimiert ist, sie habe beschlossen, ihre gesellschaftliche Tätigkeit einzustellen.
„Haben sie dich besiegt?“, fragte ich.
„Ich habe keine Kraft mehr“, antwortete Olga.
Etwa zur selben Zeit geriet auch ich in den Fokus „besorgter Bürger“. Genauer gesagt, einer Bürgerin: Raissa, eine ältere Lehrerin, die schon ihr Leben lang in einer Schule am Stadtrand von Jaroslawl Literatur unterrichtet, hörte von einem Bibliothekar zufällig meinen Namen, schaute ins Internet und stieß auf eine Rezension, die mit einem Zitat aus einem Essay von mir überschrieben war: „Mein Heimatgefühl ist ein Gefühl der Scham.“ Als Erstes berief Raissa den pädagogischen Rat ihrer Schule ein und stellte eine junge Kollegin an den Pranger, die mit den Schülern meine Bücher las. Die Arme wäre fast aus der Schule entlassen worden und wird nun bestimmt nicht mehr so fahrlässig handeln.
Doch das erschien Raissa noch zu wenig. Sie beschaffte sich meine Telefonnummer und rief mich nun täglich an, von verschiedenen Nummern aus, und erging sich in obszönen Monologen über die richtige „Liebe zur Heimat“. Die mir eigene schriftstellerische Neugier auf menschliche Typen nötigte mich, mir das alles anzuhören.
Aus diesen Anrufen erfuhr ich viele unglaubliche Einzelheiten über Raissas Leben. Zum Beispiel, dass bei ihr zu Hause neben einer Ikone des heiligen Georg ein Foto von Putin auf einem weißen Pferd steht. Und dass sie die Beziehungen zu einer Jugendfreundin abgebrochen hat, weil diese sich bei ihrer Geburtstagsfeier weigerte, auf die Gesundheit des Präsidenten zu trinken. Dass sie den Schulverweis eines Jungen durchgesetzt hatte, der zu Kundgebungen gegangen war. Dass sie Nachbarn anzeigte, die auf dem Balkon die Annexion der Krim verurteilten … „Wir werden euch Saboteure zerquetschen“, versprach mir Raissa zum Abschied und rief kämpferisch: „Ruhm Russland!“
* Name geändert.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt