„Früher wussten wir, was gut war und was böse“
Die Regisseurin erzählt von der Leere der heute 30-Jährigen
Die Pionierorganisation Wladimir Iljitsch Lenin existierte bis zum Ende der Sowjetunion 1990, Mitglieder waren Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren. Sie auch?
Ja, natürlich! Es war sehr wichtig für meine Generation, dabei zu sein. Schließlich waren wir alle Kinder Lenins (lacht). Als Kollektiv verbrachten wir viel Zeit miteinander. Wir freuten uns über die alljährlichen Oktoberdemonstrationen, weil es etwas Süßes und Limonade gab und die Stimmung gut war. Dass wir Teil der sowjetischen Propaganda waren, verstanden wir damals nicht.
Ihr Film „Pioneer Heroes“ erzählt die Geschichte dreier Kinder, die in den späten 1980er-Jahren in die Organisation aufgenommen werden. Was bedeutete es, damals, kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, Pionier zu sein?
Unsere Vorbilder waren die sogenannten Heldenpioniere, Kinder, die im Zweiten Weltkrieg für Russland kämpften und starben. Als Pioniere wurden wir darauf vorbereitet, etwas Richtiges, Echtes aus unserem Leben zu machen. Man musste ein reines Gewissen haben, um dabei zu sein: Der Film spielt in einer Zeit, in der zum Beispiel das Schnapsbrennen verboten war. Der Großvater einer Protagonistin brennt daheim, sie verrät ihn aber nicht und nimmt die Schuld auf sich. Sie hat sehr daran zu knabbern. Diesen seelischen Zwiespalt will ich in meinem Film zeigen.
Man sieht auch, wie die Kinder subtil unterdrückt werden. Der Schulchor muss in Reih und Glied stehen und leiser singen als der Junge mit der schönsten Stimme.
Es gab in der sowjetischen Kindheit einen gewissen Druck. Das hat uns sehr geprägt. Meine Generation kann sich nicht richtig positionieren und ist unentschieden, das ist ein Resultat der sowjetischen Erziehung. Zumindest wussten wir damals aber, was gut war und was böse. Heute gibt es da fast keine Grenzen.
Im Film erlebt man den Werdegang ihrer Protagonisten. Sie sind heute ungefähr dreißig Jahre alt, haben Erfolg im Beruf, befinden sich aber in einer Sinnkrise. Was fehlt ihnen?
Ja, sie sind erfolgreich, aber es geht ihnen eigentlich nicht um das Materielle. Sie haben einen geistigen Hunger nach Selbstverwirklichung. Allerdings gibt es kaum etwas, womit sie sich identifizieren können. So geht es vielen Russen in diesem Alter.
Könnte man sich nicht in die Politik einbringen?
Politik ist ein schmutziges System in Russland. Ich kenne niemanden, der sich dort engagieren möchte.
Eine der ersten Szenen zeigt die Schauspielerin Olga beim Therapeuten. Wollten Sie einen Film über „Russland auf der Couch“ machen?
Nein. Ich bin skeptisch gegenüber der Psychoanalyse. Es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass wir von irgendwelchen komischen Menschen etwas über den Sinn des Lebens lernen sollen.
Sie haben ihren Film auf der diesjährigen Berlinale gezeigt. Wie hat sich das angefühlt bei den Spannungen mit Russland, vor allem im Ukraine-Konflikt?
Ich habe dort Andreas Dresens Film „Als wir träumten“ gesehen. Die Fragen, die sich seine Protagonisten stellen, sind denen meines Films sehr ähnlich. Das gibt doch Hoffnung, dass wir uns über die gleichen Dinge Gedanken machen.
Das Interview führten Jenny Friedrich-Freksa und Fabian Ebeling
Dolmetscherin: Natalia Drozd