Der Diktatur verfallen
Mit dem Ende der Sowjetunion verloren die Russen ihre Identität. Das macht sie nicht zu autoritätshörigen Menschen
Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich Russland stark verändert. Aus einem Staat, der Teil der Familie demokratischer Nationen werden wollte und ernsthaft die Perspektiven einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO diskutierte, wurde ein Land, das in der Mitte Europas einen Krieg führt und sich der gesamten westlichen Welt entgegenstellt. Die russische Gesellschaft ist mehrheitlich einen ähnlichen Weg gegangen.
Die Ende der 1980er-Jahre, Anfang der 1990er-Jahre vorherrschende europäische Identität wich dem Empfinden einer russischen Sonderstellung und der gefühlten Feindseligkeit der gesamten Welt den Russen gegenüber. Die russischen Bürger sind gegenüber dem Westen heute viel schlechter eingestellt als zu Zeiten der UdSSR, die Atmosphäre im Land ruft Assoziationen mit den düstersten Phasen des Mittelalters hervor: Stalin, über dessen Verbrechen sich noch vor kurzem die Mehrheit der Bevölkerung im Klaren gewesen ist, wird wieder zum Helden verklärt, der kommunistische Terror scheint vergessen, und wie unter Iwan dem Schrecklichen erklärt sich Russland zum einsamen Hüter der Moral.
Russland ist immer noch eine Atomsupermacht. Die Menschheit kann das, was bei uns vorgeht, nicht mit distanziertem Interesse betrachten, als handele es sich um ein exotisches Phänomen, das normale Länder nicht betrifft. Die soziokulturellen und innenpolitischen Prozesse, die hier stattfinden, haben für uns, aber auch für das gesamte internationale Sicherheitssystem Konsequenzen und müssen einer ernsthaften Analyse unterzogen werden.
Es gibt beliebte und aus meiner Sicht unzutreffende Erklärungen dafür, was in Russland in den letzten Jahren geschehen ist. Die verbreitetste – das Problem liege bei den Russen selbst – hat im Prinzip einen rassistischen Charakter. Russen bräuchten demnach keine Freiheit und seien von Natur aus der Diktatur verfallen. Als Beweise dafür gelten die lange Abfolge von Tyrannen auf dem russischen Thron, die Grausamkeit unserer Gesetze sowie die Opferzahlen kommunistischer Straf- und Arbeitslager.
Erstens lässt sich die russische Geschichte nicht auf die Verbrechen des Staates gegenüber seinem Volk reduzieren. Es gibt auch Beispiele des heldenhaften Kampfes für Freiheit und Würde. Der Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow und Zar Alexander II., der Dekabristenaufstand 1825, bei dem sich aufständische Adlige dem autokratischen Zarenregime von Nikolaus I. verweigerten, und die große russische Literatur – das und vieles mehr widerlegt die Vorstellung von Russen als Menschen, denen freiheitliche Ideen fremd sind. Zweitens haben russische Emigranten sich den Bedingungen von Demokratie und freier Marktwirtschaft anderswo hervorragend und ohne Schwierigkeiten angepasst. Mit der Erziehung ihrer Kinder und einer Beteiligung am politischen Leben haben sie für sie vermeintlich untypische Werte erfolgreich adaptiert.
Eine andere beliebte Erklärung besagt, dass die Russen an die Vormundschaft des Staates gewöhnt seien und bei der Verantwortlichkeit für das eigene Leben den Kopf verlören. Deswegen wollten sie zu jenem Leben zurückkehren, in dem ihnen die Regierung eine wenn auch bescheidene, aber dennoch gesicherte und vorhersehbare Existenz garantierte.
Dass Russen seit der Sowjetzeit an staatlichen Paternalismus gewöhnt sein sollen, können nur diejenigen glauben, die die UdSSR anhand der offiziellen Dokumente der Kommunistischen Partei studiert haben und sie für bare Münze nehmen. Die Sorge des Staates für den Einzelnen – kostenlose medizinische Versorgung, garantierter Wohnraum, ein gesichertes Alter – existierte nur auf dem Papier. In Wirklichkeit wusste jeder Sowjetmensch in früher Jugend, dass er vom Staat nichts zu erwarten hatte und sich um alle garantierten Rechte selbst kümmern musste. Er stellte ein Beziehungsnetz her – zu Verkäufern, um Lebensmittel zu kaufen, zu Ärzten in Krankenhäusern, um sich behandeln zu lassen und an Medikamente zu kommen, zu Mitarbeitern des Gewerkschaftskomitees, um seinem Kind einen Krippenplatz zu sichern.
Eine ähnliche, ebenso inadäquate Erklärung ist, dass Russen zum Kollektivismus neigten und unfähig seien, unter den Bedingungen individueller Werte zu leben. Als Beweis werden die russischen Landwirtschaftsvereinigungen, die Kolchosen, zitiert, die im Grunde genommen die Leibeigenschaft wiederbelebten und außerdem die schrecklichen Wohnbedingungen, bei denen sich Millionen von Menschen zu mehreren ein Zimmer teilen mussten. Viele waren von ihren Familien getrennt und lebten in sogenannten Wohnheimen, in denen in einem Zimmer einander völlig fremde Menschen untergebracht waren. Sie lebten jedoch nicht freiwillig dort, sondern weil sie dazu gezwungen waren. Sobald sich eine Möglichkeit ergab, flohen sie. Zudem war das reale Leben, und nicht jenes, das sich sowjetische Propagandisten oder westliche Anhänger linker Ideen erdacht hatten, eine hervorragende Schule des Individualismus: Man verließ sich ausschließlich auf sich selbst oder seine Nächsten – Institutionen oder gar dem Staat konnte man nicht vertrauen. Nicht umsonst ist das Niveau gegenseitiger Hilfe in Russland bis heute niedriger als im Westen.
Um zu verstehen, was in Russland im vergangenen Vierteljahrhundert geschehen ist, muss man den russischen Menschen nicht irgendwelche besonderen Eigenschaften andichten. Das Wichtigste, was die Russen mit dem Zerfall der UdSSR verloren haben, war nicht das Imperium. Es wurde ohnehin von den meisten Menschen nicht als solches wahrgenommen. Die Russen haben etwas viel Wichtigeres verloren – ihre successful identity.
Die sowjetische Propaganda machte die Bürger stolz auf ihr Land. Sie vermittelte das Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas, das riesig, progressiv und gut war. So dachten sogar diejenigen Menschen, die ein schlechtes Verhältnis zur kommunistischen Ideologie und den sowjetischen Anführern hatten. Für sie war die UdSSR ein gutes Land, das von dummen und verbrecherischen Menschen regiert wurde. Aber die moralischen Qualitäten der Mehrheit der Bevölkerung, die Rolle ihres Landes in der Welt und der im Großen und Ganzen progressive Charakter seiner Entwicklung wurden nicht angezweifelt.
Im Prinzip hatten wir Bewohner Russlands Anfang der 1990er-Jahre die Chance, zu einer neuen, positiven Identität zu gelangen, die nicht mehr auf sowjetischen Lügen, sondern auf einem neuen Verhältnis zur Welt basierte. Wir hätten ein vollwertiges Mitglied in der Familie demokratischer Staaten werden können, viele Menschen in Russland wollten das. Auch aus einer Reihe von Fehlern der westlichen Regierungen, im Wesentlichen jedoch natürlich durch eigenes Verschulden, kam es nicht dazu. Wir schlugen den Weg eines autoritären Staates mit einer rückständigen Ressourcenwirtschaft ein, der die Rechte seiner eigenen Bürger demonstrativ missachtet. Daraus entstand ein weitverbreitetes Grundgefühl der nationalen Erniedrigung in Russland.
Die fortschrittlicheren Russen wissen, dass der Grund für diese Erniedrigung in unserem System selbst liegt. Einige dieser Menschen beteiligen sich am politischen Kampf. Andere, die nicht an einen Erfolg glauben, verlassen das Land. Die Mehrheit jedoch stimmt mit der Führung des Landes darin überein, dass an allen unseren Problemen die Ausländer schuld sind, dass Russland von Feinden umgeben ist, die ihm den Untergang wünschen. Unter diesen undankbaren Feinden, die angeblich vergessen haben, wie viel wir für sie getan haben, befinden sich praktisch alle ehemaligen Verbündeten und Vasallen – Polen und Estland, Georgien und Moldau und selbstverständlich auch die Ukraine. Feind Nummer eins sind aber die USA.
Die Annexion der Krim, die die Mehrheit der Russen tatsächlich als rechtmäßiges Eigentum Russlands betrachtet, gab Millionen von Menschen das erste Mal nach dem Zerfall der UdSSR einen Grund, auf ihr Land stolz zu sein. Wir hatten die Ukrainer und die hinter ihnen stehenden Amerikaner besiegt, wir sind bereit, die Feldzüge des Zweiten Weltkriegs zu wiederholen, wir sind die Besten, alle müssen uns fürchten. Das alles hat selbstverständlich keinen Bezug zur Realität, entspricht aber dem Weltbild von Millionen Russen. Die Freude über die Annexion der Krim verflog übrigens recht schnell und wurde von der Enttäuschung über den schweren und aussichtslosen Krieg im Donezbecken verdrängt. Der Hass auf die uns umgebende Welt, der Hass, der einen glauben lässt, an unseren Problemen seien nicht wir selbst schuld, sondern die bösen Fremden, die nun Angst vor uns haben, dieser Hass bleibt.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg