Was ihr nicht seht
Warum gerade die Widersprüche unser Land ausmachen
Im Mai gab es in Teheran nur ein Gesprächsthema: Die iranische Schauspielerin Leila Hatami, Jurorin beim 67. Filmfestival in Cannes, und Jacob Gilles, der 83-jährige Präsident des Festivals, hatten sich mit Küsschen auf die Wange begrüßt. Eine radikale Gruppe, die sich „Studierende Schwestern von der Partei Gottes“ nennt, forderte daraufhin eine Bestrafung durch Auspeitschen für sie. Der Minister für Kultur und islamische Führung sah sich gezwungen zu erklären, Hatami sei in Cannes überrascht worden.
Hatami selbst bat um Entschuldigung dafür, dass sie die islamischen Gefühle verletzt habe, betonte aber zu ihrer Verteidigung das hohe Alter des Präsidenten der Festspiele und erklärte, Gilles habe im neunten Jahrzehnt seines Lebens für sie die Autorität eines ehrwürdigen Großvaters. Gilles twitterte zu ihrer Entlastung, die Initiative für die Begrüßungsküsschen sei von ihm ausgegangen, das sei ein im Abendland übliches Verhalten.
Als das Museum für zeitgenössische Kunst in Teheran im Jahr 2002 zum ersten Mal nach der Islamischen Revolution die Schätze aus seinem Magazin zur Besichtigung freigab, wusste niemand im Westen, dass die größte Sammlung moderner Gemälde außerhalb des abendländischen Kulturkreises im Herzen Teherans aufbewahrt wird. Die Sammlung zeigt die ganze Geschichte der Kunst aus der Epoche, in der sich die Moderne entwickelt hat: angefangen von Monet, Pissarro und Renoir über Gauguin bis hin zu Ernst, Dalí und schließlich Warhol. Diese Sammlung steht symbolisch für all das, was seit der Islamischen Revolution verleugnet worden ist. Im Rahmen der Ausstellung gab es eine interessante Begleiterscheinung: Die Skulptur „Hymen“ von Picasso wurde mit der falschen Angabe „ohne Titel“ gezeigt. Doch solche Interventionen verhinderten nicht, dass die Ausstellung von Hardlinern als Zurschaustellung westlicher Dekadenz angegriffen wurde.
Ein Jahr darauf zeigte das gleiche Museum Werke zeitgenössischer US-amerikanischer Künstler. In einem halbdunklen Raum, dessen Eingang mit Tüchern verhängt war, gab es nichts zu sehen außer dem immer gleichen Fingerabdruck an allen vier Wänden. Der dafür benutzte Farbstoff war das Menstruationsblut von Frauen. Der Titel dieser Arbeit lautete „Identität“. Zur selben Zeit konnte man in den Straßen um das Museum herum Frauen beobachten, die wegen Missachtung der strengen Kleidervorschriften von den für die Wahrung der öffentlichen Moral Verantwortlichen mit einer Geldstrafe belegt oder zu einer körperlichen Züchtigung verurteilt wurden.
Das ist Teheran. Westliche Ausländer, die diese Stadt besuchen, werden durch solche eklatanten Widersprüche überrascht. Ein weiterer verblüffender Umstand ist der, dass die Klischees, welche die westlichen Medien von dem Land aufgebaut haben und die aus einer Mischung aus Saudi-Arabien und Nordkorea mit publikumswirksamen Zutaten aus Gaddafis Libyen bestehen, so gar nicht zutreffen. Teheran ist völlig anders als eine derartige Mischung und es gleicht nur sich selbst. Es ist eine unkontrollierbare Ladung geballter Energie, die bei jeder Gelegenheit ihre erstaunliche Stärke zeigt.
Westler, die nichts von meinem Lande wissen, fragen mich manchmal: „Wann wird der Arabische Frühling in Iran ausbrechen?“ Sie wissen nicht, dass Iran seinen „Arabischen Frühling“ schon hinter sich hat: Es war das erste Land in diesem Teil der Welt, das – im Jahr 1906 – durch eine Volksbewegung ein Parlament einsetzte. Es war das erste erdölproduzierende Land, das – im Jahr 1953 – seine Mineralölindustrie verstaatlichte und es war der erste Staat dieser Region, der nicht durch einen Militärputsch, sondern durch einen Volksaufstand 1979 eine republikanische Ordnung anstelle des monarchischen Regimes etablierte. Der „Arabische Frühling“ hat in Teheran begonnen, im Juni 2009, mit einer Bewegung, die die „Grüne“ genannt wurde. Die maßvollen Protestaktionen der Iraner in diesen Jahren waren das Ergebnis eines mehr als hundertjährigen Kampfes auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie.
Werfen wir einen Blick auf die heutige Situation der Kultur: Abgesehen vom Thema der Zwangsverschleierung, die ja selbst schon ein sinnfälliges Beispiel für Zensur ist, wird Zensur auch in anderen Bereichen umfassend angewandt, es gibt aber auch viele Wege, sie zu umgehen. Jedes literarische Werk, das in Buchform erscheinen soll, muss von den zuständigen Stellen vor der Veröffentlichung freigegeben werden. Das Amt, das für die Kontrolle der Bücher vor ihrer Publikation verantwortlich zeichnet, erfreut sich des passenden Namens „Amt für Bücher“. Besonders empfindlich geht man dort mit persischen Romanen um.
Nicht nur erotische Abschnitte werden zur „Verhinderung der Verbreitung von Dekadenz“ getilgt, sondern auch Passagen, die Kritik an politischen Maßnahmen der Regierung enthalten, fallen meist dem Rotstift zum Opfer. Doch es finden sich Dutzende von iranischen Verlegern in europäischen Ländern, die diese Bücher drucken. Im Ausland veröffentlichte Bücher sind nicht nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich, gelegentlich kann man sie sogar in Buchhandlungen finden. Abgesehen davon ist das Internet eine Möglichkeit, Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die einem Publikationsverbot unterliegen. Bei Filmen gibt es ähnliche Tendenzen. Die Produktion eines Films wird in verschiedenen Phasen überwacht. Nur solche Streifen erhalten die Genehmigung, auf den öffentlichen Leinwänden in den Kinos des Landes gezeigt zu werden, die alle Stationen der Kontrolle erfolgreich hinter sich gebracht haben. Trotz all dieser Schwierigkeiten gelingt es bisweilen, fern dem Auge des Zensors heimlich Filme im Lande zu drehen und diese dann sogar auf Festivals im Ausland vorzuführen. Diese Filme kann man sich leicht auf dem Schwarzmarkt besorgen.
Nicht einmal das Ausstellen von Fotografien, Gemälden und Skulpturen ist ohne Kontrolle zulässig. Die Künstler müssen, bevor sie ihre Werke zeigen, den Behörden Abbildungen vorlegen, um die Genehmigung zu erhalten. Als unerwünscht eingestuften Werken wird die Ausstellungserlaubnis verweigert.
Die Situation der Presse ist ebenfalls nicht erfreulich. Journalisten sind zwar nicht gezwungen, ihre Artikel vor der Veröffentlichung einzureichen. Aber die Gefahr des Verbots hängt stets wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf und zwingt sie, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Trotzdem kommt es oft vor, dass einer Zeitung oder Zeitschrift die Lizenz entzogen wird. Die Herausgeber von verbotenen Zeitschriften bekommen in manchen Fällen die Erlaubnis, ein anderes Blatt herauszubringen, und dann veröffentlichen sie ihr Produkt unter einem neuen Namen. Deswegen sind relativ unabhängige Zeitungen und Zeitschriften in Iran äußerst kurzlebig.
Dennoch ist es angesichts der technologischen Entwicklung nicht einfach, die Wege der Nachrichtenübermittlung völlig zu kontrollieren. Obwohl es verboten ist, per Satellit übertragene Nachrichtenkanäle zu empfangen, sind die Dächer der Teheraner Häuser mit Satellitenschüsseln übersät. Selbstverständlich werden dem Empfang auf verschiedene Weise Hindernisse in den Weg gelegt, etwa indem Störsender betrieben oder Satellitenschüsseln beschlagnahmt werden. Aber Letzteres habe ich in den letzten zwanzig Jahren nur dreimal erlebt.
Das Internet, Literatur- und Filmfestivals, internationale Versteigerungen, Häuser wie Christie’s, die Kunstwerke für Auktionen ausstellen, und europäische Buchverlage sind Freiräume, welche die iranische Kunst und Literatur aus ihrer Isolation herausholen. Eben damit liefern sie der iranischen Regierung einige Vorwände dafür, ständig Öl ins Feuer des Hasses auf das Abendland zu gießen. Iranische Künstler und Schriftsteller sind manchmal gezwungen, sich in Geduld zu üben. Gelegentlich dauert der Prozess der Prüfung von Büchern sehr lange, ab und zu erhält man auch eine abschlägige Antwort. Aber es ist durchaus möglich, dass bei einem Wechsel von Regierung und Politik die Genehmigung zur Veröffentlichung dann doch noch erteilt wird. Mein erster Roman mit dem Titel „Rousehye Qasem“ (Ghassems Trauer) musste zwanzig Jahre lang auf die Publikationserlaubnis warten. Die Folge dieser langen Vorgänge des Abwartens und Ausharrens ist vielfach Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Das ist der Preis, den iranische Schriftsteller für ihre Unabhängigkeit zahlen. Ansonsten kann man sich durch den Anschluss an die Kreise, die der Regierung nahestehen, den Weg zur Veröffentlichung ebnen, aber in diesem Fall muss der Künstler natürlich seine schöpferische Individualität preisgeben und er widmet sich dann nicht mehr der Produktion von Kunst, sondern der von Propaganda für die Regierung.
Aus dem Persischen von Kurt Scharf