Menschen mit Waffen

Gerade war die Ukraine noch ein friedliches Land – jetzt tun sich Nachbarn plötzlich Gewalt an. Wie leicht ein Krieg entsteht und wie sehr es Menschen verändert, wenn sie bewaffnet werden

Den Krieg in der Ukraine sahen wir im Dezember 2013 nicht kommen. Damals spielte ich mit meiner Band in Donezk. Wir reisten zum dortigen „Euromaidan“, wo sich Menschen zu Protesten versammelt hatten, nachdem der damalige Präsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet hatte. Die Empörung über die Regierung war vom Maidan in Kiew auf das ganze Land übergeschwappt. Von Separatismus oder eigenen Republiken sprach damals keiner, obwohl die Donezker Euromaidan-Anhänger einiges einstecken mussten – Provokationen und Druck vonseiten der damaligen Staatsmacht gab es von Anfang an. Verglichen mit den Kampfhandlungen von heute handelte es sich bei diesen Provokationen aber bloß um eine milde Form des Rowdytums. So wurde unsere Band ein paarmal von sogenannten „Tituschki“ (von der damaligen Regierung angeheuerte Jugendliche) attackiert, die versuchten, Hühnereier und mit Wasser gefüllte Präservative auf die Bühne zu werfen. Im Grunde wirkte das alles ziemlich romantisch und die paar Hundert Donezker, die zu unserem Auftritt kamen, waren vom unbedingten Sieg über das kriminelle Regime von Viktor Janukowitsch überzeugt.

Jeden Tag trafen sich damals die Donezker Befürworter der europäischen Integration, nach Neujahr demonstrierten sie sogar vor der Residenz des einflussreichen Milliardärs und reichsten Ukrainers Rinat Achmetow. Mehr noch: Achmetow persönlich (ohne Leibwächter!) kam zu ihnen und suchte nach einer Verständigung.

Seit dem letzten Dezember, so könnte man denken, ist kaum Zeit vergangen, gerade mal ein halbes Jahr. Selbst im März gab es in Donezk noch zahlreiche Demonstrationen und nichts deutete darauf hin, dass sich Ukrainer bald kämpferisch gegenüberstehen sollten. Aber der „Russische Frühling“, von Moskau initiiert und vor Ort vom gezielt vorbereiteten Publikum aufgegriffen, hat gezeigt, wie man eine recht friedliche und ruhige Region, und das war der Donbass im Osten der Ukraine trotz aller Besonderheiten, in nur einem Monat in eine Art Somalia verwandeln kann – mit unkontrollierten bewaffneten Formationen, gefangen genommenen Geiseln, entführten Aktivisten und allgegenwärtiger Plünderei.

Es zeigte sich, dass Krieg viel leichter beginnt, als es scheinen mag, und dass er erheblich näher ist, als wir denken. Es zeigte sich, dass Ruhe und Frieden und der Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft leicht verdrängt werden können durch Propaganda, Ängste und revanchistische Stimmungen. Und schließlich zeigte sich, dass Hass nicht unbedingt von Weitem zu erkennen und offen erklärt sein muss – manchmal hat er die Fähigkeit, lange Zeit in unserem Unterbewusstsein zu lauern und auf seine Stunde zu warten, auf den richtigen Moment. Aber die Hauptsache, die allen klar wurde, ist, dass Waffen das Verhalten vieler Menschen verändern. Die ganzen 23 Jahre unserer Unabhängigkeit haben wir uns darüber gefreut, dass es uns gelungen ist, Krieg zu verhindern, es ohne Blutvergießen zu schaffen, trotz der offensichtlichen Probleme und Schwierigkeiten, trotz der Widersprüche und Gegensätze. Wir schafften die Loslösung von der Sowjetunion 1991 ohne einen Schuss, wie durch ein Wunder fiel auch bei der Orangenen Revolution 2004 kein einziger und ich denke, wir alle waren überzeugt davon, dass es uns auch diesmal gelingen würde, uns untereinander einig zu werden. Aber wie sich zeigte, hatten wir dieses Mal einfach keine Wahl – ohne unser Zutun versetzte man uns in eine Kriegssituation: die eines nicht erklärten, versteckten und daher noch zynischeren und brutaleren Krieges.

Auch nach den Wahlen müssen wir uns operativ auf die Realität dieses Krieges einstellen, denn jeder Versuch, ihn als Fortsetzung friedlicher Auftritte oder Äußern eines alternativen Standpunkts zu begreifen, endet damit, dass Mitbürger sterben. Das Separatismus- und Föderalismusspiel, in das uns die Terroristen drängen, geht einher mit der physischen Vernichtung von Andersdenkenden, der Verfolgung von Journalisten und mit offenem Banditentum. Man kann sich nur darüber wundern, wie rasch und unerbittlich wir den Punkt ohne Wiederkehr überschritten haben, wonach nicht mehr unterschiedliche politische Ansichten aktuell sind, sondern es um das dringende Problem geht, unser Land zu bewahren, um die Sicherheit Hunderttausender friedlicher Bürger.

Aber was ist nur mit dem Donbass passiert? Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die größte bewaffnete Kraft dort heute nicht die örtlichen Bewohner sind, sondern Bürger des Nachbarlandes, selbst wenn man berücksichtigt, dass in Slowjansk und Kramatorsk heute waffenstrotzende professionelle Söldner gegen die ukrainischen Soldaten vorgehen, so ist doch klar, dass die lokale Bevölkerung mitmacht. Man braucht nur die vielen Accounts in den sozialen Netzwerken zu öffnen, wo junge „Separatisten“ mit Kalaschnikows und Makarows in den Händen vor den Linsen ihrer Mobiltelefone posieren und diese Posen mit romantischem Blödsinn über Heldenmut und „die Taten unserer Großväter“ betiteln, und es wird deutlich: trotz der offensichtlichen russischen Beteiligung, obwohl die Ereignisse von Russland inspiriert sind, ist all das, was heute im Osten der Ukraine passiert, vor allem ein Konflikt, den die Ukrainer so oder so untereinander lösen müssen.

Denn man kann natürlich endlos Saboteure bekämpfen, Stützpunkte der Kämpfer zerstören und ihre Führer festsetzen, aber wie soll man zum Beispiel gegen Rentner vorgehen die (für Geld, wie manche behaupten, aber auch ganz kostenlos, aus Überzeugung) die Soldaten ihres eigenen Landes (ihres eigenen Landes!) blockieren, die ihre Enkel mitschleppen und gepanzerte Fahrzeuge stoppen, die es den Saboteuren aus dem Nachbarland (nicht ihres eigenen!) erlauben, ihre Mitbürger und Landsleute zu erschießen? Wie soll man ihnen entgegentreten und mit welchen Worten mit ihnen einen Dialog führen? Wie kannst du einen Dialog führen mit Mitbürgern, die die Fahne deines Landes herunterreißen und verbrennen? Wie mit Landsleuten reden, die, nachdem sie endlich an Waffen gekommen sind, eine ganze Region in Geiselhaft halten und ihren „zivilen Widerstand“ schon längst in Bürgerkrieg verwandelt haben? Aber früher oder später müssen wir reden, denn so oder so sind die von separatistischen Stimmungen erfassten Gebiete ein integraler Bestandteil unseres Landes und der Verlust der Regionen Luhansk und um Donezk herum wäre einfach inakzeptabel.

Ungeachtet der kategorischen Erklärungen der Separatisten, sogar ungeachtet der immer negativeren Einstellung gegenüber dem Donbass vonseiten eines Teils der Ukrainer, die nicht ganz verstehen, warum man mit Gewalt ein Gebiet zurückhalten will, das nicht Teil des Landes sein will, und stattdessen danach strebt, ein Teil von wer weiß was zu sein, steckengeblieben in der Zeit, aus der Geschichte gefallen; das sich verzweifelt an die Vergangenheit klammert mit ihren heroischen sowjetischen Siegen und Errungenschaften. Ist dieses Festklammern am historisch Untoten das Leben ukrainischer Soldaten wert und die gebrochenen Schicksale tausender Familien, die ihre Freunde und Verwandten verlieren?

Mir scheint allerdings, hier wird oft das Wichtigste vergessen: Die Menschen mit Waffe in der Hand, die Menschen in Masken und Tarnanzügen, die Menschen mit den russischen Fahnen – das ist nicht der ganze Donbass, und es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Zu verstehen und nicht zu vergessen, dass das Bild, das man uns im Fernsehen zeigt, nur ein bestimmter Ausschnitt der Realität ist, ein meistens ziemlich oberflächlicher und einseitiger Ausschnitt. Man darf nicht vergessen, dass diese ganzen Referenden zur Abstimmung über Volksrepubliken unecht, eine Farce sind und dass sie also nicht einmal annähernd eine Vorstellung von den wirklichen Stimmungen in der Region vermitteln.

Es ist außerdem wichtig, nicht diejenigen aus der „lokalen Bevölkerung“ zu vergessen (auch sie sind Bewohner des Donbass, mit denselben Rechten und derselben Geschichte), die im vergangenen Winter auf die Straßen und Plätze gingen, Veränderungen forderten und gegen die Diktatur protestierten. Denn noch vor wenigen Monaten konnte hier gar nicht die Rede davon sein, sich gegen den Rest des Landes zu wenden, genauso wenig wie von irgendeiner Abspaltung oder irgendwelchen „Streitkräften des Südostens“ die Rede war. Das künstliche Konzept, die von außen übergestülpte Idee von der Möglichkeit blutiger Rache, das gekonnt und fachmännisch produzierte Feindbild, die mysteriösen „Faschisten“ und „Banderisten“ (die Bezeichnung geht zurück auf Stepan Andrijowytsch Bandera, der im Westen des Landes als Nationalheld gefeiert, im Osten aber als Nazi-Kollaborateur verteufelt wird), die alle auslöschen wollen, das alles hat keine reale Grundlage und ist daher zu Untergang und Vergessen verdammt. Die Frage ist nur, wie viel Blut davor noch fließen muss.

Die Situation im Osten der Ukraine hat uns allen ganz unerwartet etwas sehr Wichtiges in Erinnerung gerufen – die Waffe in unserer Hand kann einfach und für lange Zeit all unsere Ängste, Komplexe und Phobien aufwecken, sie weckt all unsere Dämonen, den Dämon der verpassten Selbstverwirklichung vor allem. Ein Mensch mit Waffe in der Hand verliert sehr schnell den Realitätssinn, den Sinn für bestehende gesellschaftliche Beziehungen und soziale Bindungen. Mit dem Maschinengewehr in der Hand nimmst du dir das Recht, deine eigenen Probleme auf Kosten anderer zu lösen, in fremde Schicksale einzugreifen, die Geschichte zu lenken. Durch die Waffe wirst du nicht weniger unsicher, sondern nur weniger adäquat. Genau das können wir heute beobachten.

Dutzende Menschen mit Maschinengewehren in der Hand veranstalten eine Jagd auf Mythen und Gespenster, die ihnen von der Propaganda aufgedrängt werden, und rauben dabei Dutzenden anderer Menschen das Leben – Menschen, denen sie noch vor Kurzem auf der Straße, auf dem Markt oder im Bus begegnet sind. Der Bürgerkrieg ist entsetzlich vor allem in seiner Normalität, seinem brutalen Eindringen in die Leitungen und Kanäle des Alltags, seiner starken Verflechtung mit unserer täglichen materiellen Welt. Du bekommst eine Waffe in die Hand und dadurch ändern sich die meisten deiner Koordinaten, vor allem aber änderst du, warum auch immer, plötzlich die Einstellung zu deinen Nachbarn auf demselben Stockwerk. Die Waffe schützt dich. Die Waffe gibt dir recht. Allerdings musst du sie früher oder später niederlegen. Und womit willst du dich dann rechtfertigen? Das ist die Frage, auf die dir keine Propaganda eine Antwort gibt.

Die Worte „Mobilisierung“ und „militärische Ausbildung“ sind für niemanden von uns mehr Abstraktion, bloße Begriffe aus Büchern und Kriegsfilmen. Wir alle kennen heute Menschen, die sich als Freiwillige gemeldet haben oder eingezogen worden sind, und überhaupt denkt heute jeder auf die eine oder andere Weise darüber nach, ob es nicht vielleicht notwendig ist, zu den Waffen zu greifen. Kriegshandlungen sind Realität geworden, ebenso wie die Erkenntnis, dass sich keiner vor dieser Schlacht um unser Land drücken kann. Diese Erkenntnis kam vielen übrigens schon im letzten Winter, während der Ereignisse in Kiew. Der Krieg hat sie nur herauskristallisiert und geschärft.

In dieser Situation hatten viele ihre Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahlen gesetzt, die der neuen ukrainischen Regierung genug Legitimität zur Beruhigung und Stabilisierung der Lage in den östlichen Regionen verleihen sollten. Aber inzwischen ist deutlich geworden, dass die Wahlen längst nicht alle Probleme lösen.

Zum Beispiel weil die Separatisten von Anfang an erklärt haben, das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen. Außerdem gab es in den Gebieten, die von den Separatisten kontrolliert werden, fast keine Wahlen, der Donbass hat kaum gewählt (was sich übrigens direkt auf die Ergebnisse ausgewirkt hat; die Vertreter der Partei der Regionen – ehemals stellte diese mit Janukowitsch den Präsidenten und schwankte immer wieder zwischen EU-Befürwortung und Russland-Zuwendung – hatten praktisch keinen Zuspruch), und die Gegner der Kiewer Regierung verharren auf ihren Positionen der Nichtanerkennung und Konfrontation. Viele sagen, dass kein schnelles, schmerzloses Ende des Konflikts in Sicht ist, dass man sich besser auf eine lange Auseinandersetzung einstellt, die Monate dauern kann. Jedenfalls werden immer mehr Menschen mit hineingezogen. Immer mehr Bürger der Ukraine werden zu Teilnehmern an Kriegshandlungen, es werden immer mehr Waffen eingesetzt, es gibt immer mehr Opfer. Die Situation gerät weiter außer Kontrolle, Einflusskräfte und Interessen ändern sich, die gestrigen Autoritäten verlieren plötzlich an Macht. Die Gewalt bleibt in Händen der Menschen mit Waffen. Und das ist vielleicht das Tragischste an der ganzen Lage.

Immer mehr Bewohner des Donbass versuchen, die Konfliktzone zu verlassen, in der lokalen Bevölkerung wächst die Enttäuschung und der Unmut über die selbst ernannten „Republiken“, deren Staatsbildung schnell und unmerklich zu Marodieren, Terror und der Einladung an bewaffnete Söldner aus Russland und Tschetschenien geführt hat. Gleichzeitig wächst der Unmut des übrigen Landes über den Donbass – viele verstehen nicht, warum ukrainische Wehrpflichtige Regionen von Terroristen befreien sollen, die gar nicht in jedem Fall befreit werden wollen, warum tschetschenische Spezialkräfte ukrainische Soldaten töten und die lokale Bevölkerung immer noch stur auf die Kreml-Propaganda hört, die alle und jeden mit dem „ukrainischen Faschismus“ erschreckt. Es gibt sehr viele Fragen, sie werden immer brennender und komplizierter, und um sie zu lösen, werden immer mehr Waffen eingesetzt.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr