Iraner erzählen von Iran

Das iranische Schamgefühl

Iraner reden lieber über die glorreiche Vergangenheit als über die bedrückende Realität ihres Landes. Warum es Aufgabe der Schriftsteller ist, diese Sprachlosigkeit zu überwinden 

Die Bewohner eines Dorfes feuerten einst ihren lügenhaften Hirten und heuerten einen neuen an. Kaum war eine Woche vergangen, da kam der neue Hirte zur Dorfgrenze gerannt und schrie: „Wölfe! Wölfe!“ Die Dorfbewohner sagten zueinander: „Der ist ja auch ein Lügner! Oder verhexen etwa die Schafe die Hirten, um sich über uns lustig zu machen?“ So geschah es, dass die Leute nicht einmal aus ihren Häusern heraus kamen. Der Hirte aber hatte nicht gelogen ... (Jener Hirte, der die Wahrheit gesagt hatte, kann ein Gleichnis für die persische Literatur sein. Ob ihr erratet, welche Personen der Lügner, der Wolf und die Schafe sein könnten?)

Wenn Sie mit einem Iraner ins Gespräch kommen, in einem Restaurant oder in einem Park oder sogar im Bus, wird er das Gespräch bald auf die Zeit vor 2.500 Jahren lenken, um zu sagen: Als ihr im Westen noch nicht zivilisiert wart, herrschte in Iran ein fortschrittliches Königreich und es gab einen König der Könige namens Kyros, der nach der Eroberung von Babylon und der Befreiung der Juden auch die erste Charta der Menschenrechte verkündete. Später, falls Sie das Gespräch fortsetzen, wird er weitere iranische Dynastien aufzählen. Wenn er dann aber in der Gegenwart angekommen ist, wird er sich vermutlich auf die Zunge beißen. Womöglich erlaubt es ihm sein Stolz nicht, dass er seine Scham über das herrschende Regime offenbart. Er weiß, dass Sie sporadisch in den Nachrichten die Berichterstattung über Iran gehört haben und diese womöglich spöttisch belächelt oder sich sogar geängstigt haben. Dieser ganz normale schamhafte Iraner wird vielleicht mancherorts sogar seine Nationalität verheimlichen. In jenem Fall nicht nur aus Scham, sondern auch aus Angst, damit man ihn bloß nicht für einen Terroristen hält.

Aber dieses Schamgefühl der Iraner sollte nicht allzu lange währen. Wir Iraner haben zurzeit in der Weltwirtschaft nichts zu sagen: außer dass wir ihr unser Rohöl schenken. Im Sport immerhin gibt es in einigen Sparten kleine Erfolge zu verbuchen. Wenn wir Touristen nach Iran einladen, um Persepolis oder die Zikkurat, den Tempelturm von Tschogha Zanbil, zu besichtigen – das heißt die Kulturstätten jenes besagten dahingegangenen Glanzes –, umringen Anhänger der Hezbollah, der Partei Gottes, plötzlich den Touristenbus und bewerfen ihn mit Steinen. Sie brüllen „Tod für Amerika, Tod für Israel, Tod für England, Tod für die Liberalen, Tod für ...“. (Darwin lässt grüßen.)

Was also besitzen wir? Oder: Was ist uns geblieben? Ist es besser, zu kapitulieren, sollen wir schweigen oder, wie der Dichter Ahmad Shamlu sagt, „das Licht im Kämmerchen des Hauses verborgen halten“?

Ich denke, wir sollten nicht schweigen. Die Lösung des Problems und die Entschlüsselung des Geheimnisses liegen in Iran selbst. Im Laufe vieler Jahrhunderte haben verschiedene ethnische Stämme dieses Land angegriffen. Sie haben getötet, geplündert und verwüstet. Viele Despoten sind in jedem Winkel des Landes aufgetaucht, Unterdrückung und Bücherverbrennung war ihr Werk. Dann wiederum haben sich die Iraner immer wieder aufgrund ihres Nationalismus, weil sie eine alte gemeinsame Geschichte und eine Literatur haben, erhoben und sich zu voller Größe aufgeschwungen, um ihre Unabhängigkeit zurückerzuerlangen, bisweilen mithilfe des Schwertes, immer wieder jedoch mithilfe der Feder. Denn ihre beste Waffe ist die persische Sprache selbst gewesen und die Literatur. Die persische Literatur kann die verletzte Ehre der Iraner in der Welt wieder herstellen. Etwas, was der iranische Film auf seine Weise bereits geleistet hat.

Die Revolution von 1979, die später die „Islamische“ wurde, hat viele Wünsche und Träume getötet und begraben oder zur Flucht ins Ausland getrieben. Werke, die damals geschrieben wurden, verstaubten viele Jahre lang in Schubladen und Truhen. Shamlu, der große Dichter Irans, hat diese Zeit so beschrieben: „... geröstete Kanarienvögel über einem Feuer aus Lilien und Jasmin ...“

Es war überhaupt nicht klar, ob Prosa und Poesie „haram“ oder „halal“, gemäß islamischen Regeln  nicht erlaubt oder erlaubt waren. Aber nach und nach kam eine neue Welle junger Autoren auf: Das Erscheinen einer Sammlung von Kurzgeschichten etlicher junger iranischer Schriftsteller unter der Ägide von Hushang Golshiri war wie das Herausspringen eines Tim Burtonschen „Big Fish“ aus dem Sumpf, in den man die unabhängige und kreative Literatur in Iran versenkt hatte.

Dann wurde das System der Zensur milder aufgrund des internen Drucks, der Notwendigkeit, die Konsolidierung des Regimes zu demonstrieren, und weil man eine Vorzeigekultur schaffen wollte, um mit dem Westen besser verhandeln zu können. Die Literatur bahnte sich in Bächen ihren Weg. Nach und nach erhielten einige Romane, Sammlungen von Kurzgeschichten und Gedichten Druckgenehmigungen. Neben der Generation der Schriftsteller, die vor der Revolution geschrieben haben, präsentierte sich eine neue Generation in der Literatur, die unter dem Titel „Dritte Generation“ berühmt wurde. Sie suchte nach rasanter Erneuerung, einer neuen Identität für die persische Literatur in der nun veränderten Situation sowie die Abspaltung von den vorrevolutionären Schriftstellern. Diese Generation war noch nicht in die Jahre gekommen, als Jüngere auf der Bildfläche erschienen und sich als „Vierte Generation“ präsentierten.

Meiner Meinung nach waren beide Begriffe ebenso schlicht wie imaginär. Es war genau die Zeit, als korrekte ebenso wie fehlerhafte Übersetzungen von Werken der postmodernen Bewegung in Iran erschienen. Von diesen Werken war die Vierte Generation stärker beeinflusst. Das auffälligste Merkmal dieser jungen Autoren war eine spektakuläre Rebellion in der Sprache: die Nichteinhaltung der Grammatik und Syntax, unvollständige Sätze, eine phonematische Ausdrucksweise verbunden mit einem oberflächlichen Verständnis der sogenannten „Dekonstruktion“ kennzeichnen ihre Schriften. Auch die Dritte Generation hatte sich dieser Mittel bedient, jedoch ohne großes Aufheben und vielleicht vorsichtiger, um ja nicht in dieser Phase der Wiederbelebung der unabhängigen Literatur in einem Regime auffällig zu werden, das nach wie vor die Hinrichtung Andersdenkender praktizierte und weiterhin Terroranschläge auf Schriftsteller und Übersetzer vorbereitete.

In einer Zeit, in der man für Protest und die Erlangung der primären Rechte für Menschen und Kunst einen hohen Preis zahlen muss, entsteht Aufruhr und Verwüstung in der Sprache. Die wichtigsten Gründe für den Aufstand in der Sprache sehe ich überwiegend in folgenden Aspekten: in dem Streben nach Innovation, sowie danach, das rückständige System der Zensur, das diese Art zu schreiben nicht versteht, zu verwirren; in dem Gefühl der Beklemmung in einer Atmosphäre der politischen Unterdrückung; und natürlich in der Wut darüber, dass die Gefühle und der Widerstand in Bezug auf die Misere in Politik, Gesellschaft und Identitätsfindung nicht artikuliert werden können. Verzweiflung über die düstere Zukunft der Iraner, die düstere Atmosphäre des Rückschritts und der Bemühung des Regimes, Iran 1.400 Jahre zurückzuversetzen.

Hier wird das Streben nach Moderne und Postmoderne zum Schutzwall. Unter der Flagge der unabhängigen Literatur erfolgt die Auseinandersetzung mit einem Regime, das versucht, mit Dutzenden  Gruppierungen staatlicher Dichter und Schriftsteller die traditionelle tausend Jahre alte Literatur wiederzubeleben ...

Die sprachliche Rebellion erinnert mich an den US-amerikanischen Schauspieler James Dean. Der Kampf um die Erlangung von Identität, Meuterei gegen die Beständigkeit der alten Gesellschaft, der Ungehorsam gegenüber dem Patriarchat und der Herrschaft des Öls ... Auf jeden Fall hat diese Rebellion der persischen Literatur neue Stärke verliehen und sie auch couragierter werden lassen.

Aber nun, da die Kontroverse der literarischen Generationen, die Meutereien und Rambo-Spiele sich beruhigt haben, ist es an der Zeit, dass die Literatur Irans den Schirm des vertrauten Heimischen zuklappt und sich in den Regen und die Sonne der Welt begibt. Schon vor Längerem haben die professionellen Funken dieser Literatur in der Welt zu glitzern begonnen und sogar gestrahlt. Das zeigt, dass wir dabei sind, die Zeiten der Restriktion und der niedrigen Druckauflagen universitärer und wissenschaftlicher Literatur hinter uns zu lassen.

Ich denke, um die Möglichkeit zu erhalten, mit der Welt professionell zu kommunizieren und sich mit ihr auszutauschen, müssen iranische Schriftsteller aus ihrem Kokon herauskommen und nicht länger allein für Iraner schreiben. Ich meine damit nicht, dass sie käufliche Literatur für unterhaltungsorientierte westliche Leser schreiben sollen, sondern dass sie eher versuchen sollten, die Weltliteratur in Betracht zu ziehen und über den Damm, den die Regierung um Iran herum gebaut hat, hinauszulugen. Dieser Damm hat vielleicht der Entwicklung der iranischen Kultur mehr geschadet als die Zensur. Stattliche Fluten an globaler Kultur sind von diesem Damm aufgehalten worden und das Treibgut in den Fluten der Belanglosigkeit und Unterhaltung sind über den Damm hinweg auf den iranischen Schwarzmarkt geschwappt und tun es noch. Dieses Mal müssen wir, auch wenn wir ein Loch in diesem Damm sehen, anders als jener selbstlose kleine Junge aus Sarah Toast Kinderbuch „The Little Dutch Boy. A Tale of Perseverance“ nicht den Finger hineinstecken. Im Gegenteil, durch Prosa und Poesie können wir neue Löcher in ihm erzeugen. Aber die Globalisierung einer Literatur, die in der obersten Schicht iranisch ist und in ihren unteren Schichten Gemeinsamkeiten mit der literarischen Sprache der Welt hat, ist kein leichtes Unterfangen.

Ich bin jedoch sicher, dass es einem iranischen Schriftsteller und Dichter, dem es gelungen ist, die Mühsal des Schreibens in Iran zu ertragen, kreativ zu sein und eine Revolution der veralteten iranischen Sprache zu initiieren, auch gelingen wird, Mittel und Wege zu finden, um die iranische Literatur für die Welt zu öffnen.

Aus dem Persischen von Maryam Mameghanian-Prenzlow