Alles möglich, nichts erlaubt
Notizen einer Couchsurfing-Reise durch die Islamische Republik
Der Taxifahrer zeigt aus dem Fenster auf eine große Parkanlage, in deren Mitte ein Betonklotz, eine Mischung aus Turm und Tor, in den Himmel ragt. „Das ist der Azadi-Platz, der Platz der Freiheit“, sagt er, „nur schade, dass es hier in Iran keine Freiheit gibt.“ Er lacht. Ich nippe an dem Tee, den er mir aus seiner Thermoskanne eingeschüttet hat, und lächele unsicher. Ich ahne nicht, dass mir diese Art des Sarkasmus auf meiner zweiwöchigen Reise durch Iran noch öfter begegnen wird.
Meine ersten Tage in Teheran verbringe ich bei Babak (Name geändert). Babak ist 26 Jahre alt und lebt in einer kleinen Wohnung am Stadtrand. Er hat mir über das Internetportal „Couchsurfing“ einen Schlafplatz angeboten. In Iran ist das illegal – aber auch nicht illegaler als das, was ich bei meinem ersten Ausflug in die Stadt zu sehen bekomme.
Im Garten des Golestanpalastes, des Regierungssitzes der persischen Monarchen vor der Islamischen Revolution, begegnet uns ein junges Paar, das Hand in Hand läuft. Ob das erlaubt sei, frage ich Babak. „Nein“, antwortet er. In einer Bar im angesagten Norden Teherans sitzen junge Frauen, deren Kopftücher so weit im Nacken hängen, dass sie ihre Funktion als Haarbedeckung nur sehr rudimentär erfüllen. Ob es da keine strengen Regeln gebe, frage ich. „Doch“, antwortet Babak. Abends treffen wir in einem Park zwei Jugendliche, die hinter einem Stein eine kleine Plastiktüte hervorholen, deren Inhalt sie kurz darauf ungeniert rauchen. Ob Drogenkonsum nicht mit harten Strafen geahndet werde, frage ich. „In besonders schweren Fällen sogar mit der Todesstrafe“, erklärt Babak. Doch das scheint weder den jungen iranischen Backpacker zu interessieren, der mir mitten auf dem Basar anvertraut, dass er hier ist, um Ecstasy zu kaufen, noch die unzähligen Iraner, die mich zu sich nach Hause einladen, um mit ihnen Wodka, Rum und andere Spirituosen zu trinken.
„Ein widersprüchliches Land“, schreibe ich am fünften Abend in mein Notizbuch. Zugegeben: eine Phrase, die zum Klischee geworden ist, weil sie für jedes zweite Land der Welt gilt. Aber für Iran scheint sie geradezu erfunden worden zu sein. Mittlerweile wohne ich bei einer Familie in Isfahan, der drittgrößten iranischen Stadt. Der 23-jährige Omid* und seine zwei Jahre ältere Schwester Sareh* haben mir ihr Sofa angeboten. Und mich gleich zu einer Feier bei ihrem Onkel eingeladen – es ist Nouruz, das iranische Neujahrsfest. Ich sitze auf dem Sofa und versuche mich halbherzig gegen die iranische Gastfreundlichkeit zu wehren, gegen Kekse, Gaz (weißer Nougat) und die dritte Tasse Chai (schwarzer Tee). Dass jede ernsthafte Bestrebung gegen die zuvorkommende Natur meiner Gastgeber ein Kampf gegen Windmühlen ist, habe ich bereits gelernt.
Im Satellitenfernsehen vor uns räkelt sich die halbnackte Lady Gaga unter einem dreiviertelnackten Tänzer. Auf unserer Seite des Flachbildschirms marinieren die kopfbetuchten Frauen der Familie Hähnchenschenkel für das Abendessen. Derweil versuchen ihre Männer die Eindrücke meiner Reise zu ordnen.
„In Iran ist nichts erlaubt, aber alles ist möglich“, erklärt Onkel Mohammad* und schüttet mir etwas von dem süßlichen Schnaps ein, den er „iranischen Champagner“ nennt. Der religiöse Führer des Landes, Ali Chamenei, sei ein Verrückter, „aber ein Verrückter, an den wir uns gewöhnt haben“. Alle lachen. Es ist ein Lachen, das mich an den Taxifahrer erinnert. Dann werden die Gesichter ernst. Sareh lehnt sich zu mir herüber: „Du weißt, dass das, was hier gesagt wird, diese vier Wände nicht verlassen sollte?“ Die Männer vom Sofa und die Frauen aus der Küche schauen ein wenig besorgt zu mir herüber. Ich nicke und trinke meinen hochprozentigen Champagner.
Die Tage in Isfahan vergehen schnell. Einmal schlendern wir mit einem Eis, dessen Zuckerglasur meine nicht iranischen Geschmacksnerven auf die Probe stellt, über die Siose Pol, eine der historischen Brücken der Stadt. Ein anderes Mal sitzen wir auf dem Meidan-e Emam, dem Platz des Imams, und bewundern die pompösen Pferdekutschen, die an uns vorbeirauschen. Abends holt Omid Pizza für Sareh und mich. Dazu gibt es Ketchup und eine täuschend echte Coca-Cola-Kopie. Aus dem Wohnzimmer ertönen laute Schüsse und wildes Geschrei. Die Eltern schauen einen amerikanischen Actionfilm.
In Cafés, in denen rauchende Frauen sitzen, holzgerahmte Bilder von James Dean an der Wand hängen und der Kellner uns einen Milchkaffee reicht, während er mit der anderen Hand auf seinem Smartphone tippt, vergesse ich manchmal, dass ich nicht in Berlin bin, sondern in der Islamischen Republik Iran. Einem Land, in dem der Privatbesitz von Satellitenschüsseln gesetzlich verboten ist. Einem Land, in dem Homosexualität illegal ist. Einem Land, in dem allein 2013 laut UN-Berichten mindestens 500 Menschen hingerichtet wurden, zum Teil öffentlich. Ein paar Hundert Kilometer von hier spielen sich einige der größten Tragödien des 21. Jahrhunderts ab: in Syrien, in Irak, in Afghanistan. Es fällt mir schwer, das, was ich vor meinen Augen sehe, mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was ich über das Leben in Iran zu wissen glaube.
Aber es gibt sie eben doch, diese bedrückende Realität, auch wenn sie mir als Tourist wohl meist verborgen bleibt. Manchmal blitzt sie kurz auf, etwa als ein junges Paar, das vor mir im Hotel einchecken möchte, kein Zimmer bekommt – „kein Ehering, kein Doppelbett“, lautet das Urteil des Rezeptionisten. Oder als Sareh mir von ihrer laufenden Scheidung erzählt, die sie fünfzig Millionen Rial (etwa 1.500 Euro) kostet, während ihr Ehemann den gesamten gemeinsamen Besitz behalten darf. Dann ist da wieder dieses Lachen, das die Realität weglacht, ein Lachen von Menschen, die so lange unter dem Druck eines Regimes gelebt haben, dass der Druck aufgehört hat, echt zu wirken.
Elham, die mir Quartier gewährt, nachdem ich zurück in Teheran bin, kennt dieses Gefühl. Mit 24 Jahren ist die heute 38-Jährige nach Deutschland geflohen. Über einen befreundeten Beamten gelangte sie an ein Visum. In ihrer Jugend wurde sie mehrmals verhaftet und ausgepeitscht. Auch heute macht sie sich nichts aus Regeln. Im Taxi raucht sie eine Zigarette. Beim Spaziergang über den Basar wird ihr locker gebundenes Kopftuch zum Entsetzen einiger Passantinnen vom Wind erfasst. Ihre kurzen Haare kommen zum Vorschein.
Auf einer Aussichtsplattform in den Bergen hoch über den grauen Wohntürmen und außerhalb der Smogwolke, die Teheran umschlingt, erzählt Elham von ihrer Familie. Ihren jüngeren Bruder hat sie vor einigen Jahren mithilfe von Schleppern über die Türkei und Griechenland nach Deutschland gebracht. „Du willst gar nicht wissen, mit was für Leuten ich mich dafür abgegeben habe“, sagt sie und schaut über die Stadt. Ihre Mutter und ihre Schwester sind in Iran geblieben. Ihr Vater, der Soldat im Iran-Irak-Krieg war, ist bereits verstorben. Dieser Aufenthalt ist erst ihr zweiter in 14 Jahren. Deutschland ist jetzt ihr Zuhause. Über die Menschen in Iran hat sie ihre ganz eigene These: „Iraner haben keinen Respekt vor dem Leben. Weder vor dem Leben anderer noch vor ihrem eigenen.“ Deswegen fahren sie ihre verbeulten Kleinwagen mit lebensmüden hundert Stundenkilometern durch die Innenstadt, deswegen schießen Polizisten auf offener Straße auf Diebe, deswegen und nur deswegen halten sie es in diesem Land aus.
An einem kleinen Tisch im Restaurantwagen des Transasienexpress, in dem ich von Teheran nach Ankara fahre, denke ich über Elham und Omid, über Sareh und Babak nach. Verstehe ich Iran besser als vor meiner Reise? Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall. Um mich herum ist es laut. Einige Iranerinnen tanzen in dem engen Zugwagon, sie tragen keine Kopftücher mehr. Ein junger Mann spielt Gitarre, während andere mit den Fingern auf die Tische trommeln. An der Bar stoßen die Teilnehmer einer Reisegruppe aus Teheran mit einem kalten Bier an. Vor einer halben Stunde haben wir die türkische Grenze überquert. Seitdem lachen alle anders.