„Wir können unsere Kritik nicht mehr äußern“

Existiert in Ungarn, Griechenland und Spanien noch eine unabhängige Theaterszene? Ein Gespräch mit europäischen Regisseuren, moderiert von Thomas Ostermeier

Thomas Ostermeier: Könnten Sie kurz von der derzeitigen Situation in Ihren Ländern berichten? Wie hat sich die politische Lage in den vergangenen Jahren verändert? Und welche Folgen hatte das auf die Kulturpolitik und die Produktionsbedingungen in Ihren Ländern?

Kornél Mundruczó:
Beim politischen Umbruch in Ungarn 1989 war ich 14 Jahre alt. Damals wollten alle Teil der Europäischen Union werden, doch die Beitrittsverhandlungen zogen sich ewig hin, von 1998 bis ins Jahr 2004. Langsam, aber sicher mussten wir feststellen, dass einiges in Ungarn doch etwas anders war als im Rest Europas. Es gab eine Menge Korruption und die Menschen waren von der Sozialistischen Partei, die von 2002 bis 2010 regierte, sehr enttäuscht. Doch was nach 2010 in Ungarn passierte, war wie ein böser Traum. Die rechtsgerichtete Fidesz-Partei erlangte eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und das gab ihnen die Möglichkeit, alles durchzusetzen, was sie wollten. Sie änderten sofort das Mediengesetz und unterstellten die Medien damit faktisch der parlamentarischen Kontrolle. Und sie änderten die Verfassung und beschnitten unter anderem die Macht der Verfassungsrichter und die Freiheit der Meinungsäußerung. Die Fidesz-Partei strebt nach der Kontrolle über das ganze Land. Unsere EU-Mitgliedschaft schützt uns nicht davor, genauso wenig wie sie Italien oder Griechenland schützt. Was die EU angeht, werde ich zunehmend zynischer. In der Mitte Europas passieren momentan einfach zu viele undemokratische Dinge.

Was haben Sie von der EU erwartet?

Kornél Mundruczó:
Ich finde, in jedem Land der EU sollte es dieselben Rechte geben. Meine Freiheit soll genauso viel wert sein wie die Ihre. Unsere Regierung macht, was sie will, weil sie weiß, dass es möglicherweise in Brüssel eine Debatte geben wird, aber die wird schon bald wieder in Vergessenheit geraten. Ungarn ist ein so kleines Land, mit nur zehn Millionen Einwohnern nicht größer als manche große Stadt. Doch Populisten an der Regierung sind eine Gefahr, die ganz Europa angeht. Das neue ungarische Mediengesetz erinnert mich sehr an die kommunistischen Zeiten. Wir haben zwar keine Zensur wie in Russland, aber man kann sich als unabhängiger Künstler nicht frei äußern. Wenn man linksliberal ist, wird man vom Staat als Feind wahrgenommen. Es herrscht die Haltung: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wir wissen, wer du bist, und wenn du nicht mitmachst, werden wir dich nicht unterstützen.

Aggeliki Papoulia: Für mich war schon das Aufwachsen in Griechenland schwierig, weil ich wusste, dass ich in diesem Land nicht mit Unterstützung rechnen konnte. Es ist ein Land, in dem die Regierung, die Politiker und auch die meis­ten Bürger korrupt sind. Ein Land, in dem man sehr schnell begreift, dass das Leben und Arbeiten als Künstler schwer ist und man selbst sehen muss, wie man über die Runden kommt. Jahrzehntelang wurde Griechenland von der Sozialistischen Partei regiert, die jetzt völlig am Boden liegt. Die Partei der Neonazis ist heute die drittstärkste Kraft im griechischen Parlament. Sie sind nicht nur rechtsgerichtet, das sind echte Neo-nazis. Fast jede Woche machen sie in Athen und anderen Städten Jagd auf Einwanderer. Die Polizei schaut oft genug weg.

Christos Passalis: Der Unterschied zwischen Deutschland und unseren Ländern ist schlicht, dass unsere total korrupt sind, während ihr noch Vertrauen in eure Politiker haben könnt. In Griechenland sind die Menschen richtig geladen. Das spürt man inzwischen überall. Stößt man heute aus Versehen jemanden an, ist es sehr wahrscheinlich, dass er zurückschlägt.

Àlex Rigola: In Spanien gibt es nur noch wenig staatliche Kulturförderung. Unabhängige Theatergruppen erhalten keine Unterstützung mehr. Gleichzeitig wurde die Mehrwehrtsteuer für Theater-, Konzert- und Kinokarten von acht auf 21 Prozent angehoben. Das bedeutet, dass unabhängige Theatergruppen, die kein kommerzielles Theater machen, nicht mehr überleben können. Im Bildungs- und Gesundheitswesen ist die Situation nicht viel besser. Die Regierung handelt populistisch, lügt ständig und ist total korrupt. Wir müssten wieder bei null anfangen, aber wie soll das gehen? Es trifft nicht nur Spanien, sondern alle Länder der Union, denn unser geliebtes Europa hat diese Art von Politikern gewähren lassen und die Strukturen nicht bekämpft, in denen Politik zum Geschäft verkommt, anstatt den Menschen zu dienen. Ein solches System muss sich selbst zerstören. In Katalonien haben wir die besondere Situation, dass unsere Region wie auch das Baskenland in großem Maße die anderen Regionen Spaniens mitfinanzieren. Ein Problem Spaniens ist der Zentralismus. Der Regierung in Madrid gelingt es nicht, die verschiedenen Regionen unter einen Hut zu bringen. Katalonien hat eine eigene Sprache, die nur sieben Millionen Menschen sprechen, aber es gibt keine Gesetze, die das Katalanisch als Sprache schützen. Die Katalanen verlieren langsam die Geduld. Wenn sie in drei oder vier Jahren tatsächlich unabhängig werden sollten, werden auch die Basken diesen Weg beschreiten und dann würde der ganze spanische Staat auseinanderbrechen und bankrott sein. Das wäre das Ende Europas, denn eine spanische Zahlungsunfähigkeit könnte die EU nicht auffangen. Das wäre wohl auch nicht im Interesse der Vereinigten Staaten.

Was bedeutet es für Sie, in Ihrem Land Künstler zu sein und Theater zu machen?

Kornél Mundruczó: Angst ist vorherrschend in unserer Gesellschaft. Selbst ein Postbote wird nicht offen etwas gegen die Regierung sagen, denn sonst würde er seinen Job verlieren. Wir leben in einem System der Angst, das mich an die kommunistischen Zeiten erinnert. Mitten in Europa, im Zentrum Budapests gibt es jetzt ein Theater, das Nationaltheater, das von einem Neonazi geleitet wird. Der ehemalige Leiter Róbert Alföldi hat viele Jahre gute Arbeit geleistet. Man konnte in seinem Haus modernes zeitgenössisches Theater sehen. Ihm ist es gelungen, eine neue Zuschauerschaft zu gewinnen und auch junge Leute für das Theater zu interessieren. Doch sie haben ihn abserviert, weil er nicht regierungstreu war, genauso wenig wie seine Zuschauer. Er wurde durch Attila Vidnyánsky ersetzt, einen Ungarn aus der Ukraine, welcher der ungarischen Regierung sehr nahesteht und ein Mann der Fidesz-Partei ist. Er wird finanziell gut unterstützt und möchte, dass das Theater vor der nächsten Saison kirchlich gesegnet wird. Können Sie sich vorstellen, jemand würde die Schaubühne segnen? Dieser Mann hat für mich mehr Ähnlichkeit mit einem Diktator als mit einem Theatermacher.

Sehen Sie für sich eine Perspektive?

Kornél Mundruczó: Unsere Regierung hat eine neue Klausel in die Verfassung geschrieben, die es verbietet, auf der Straße zu leben. So ein Gesetz gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Wir haben viele Obdachlose in Ungarn und die Regierung scheint tatsächlich zu glauben, ein Gesetz, das Obdachlosigkeit verbietet, könnte daran etwas ändern. Es gibt keine Solidarität mehr. Als unabhängigen Theaterleuten geht es uns nicht viel besser als den Obdachlosen. Wir haben nichts: kein Geld, keinen Strom, keine Räumlichkeiten, keine Bühne, nicht mal Kabel – einfach nichts!

Wie machen Sie dann Theater?

Dóra Büki:
Wir überleben, indem wir von Fes­tival zu Festival ziehen: von den Wiener Festwochen über das KunstenFestivalDesArts in Brüssel zum Festival d’Avignon. Das ist schon paradox: Auf diese Weise bekommen wir Unterstützung aus dem Ausland, für die wir dankbar sind, denn ohne sie gäbe es uns nicht mehr. Auf der anderen Seite bekommen wir in unserem Land keinerlei Unterstützung und können deshalb in Ungarn nicht mehr auftreten. Wir können unsere Kritik nicht mehr im eigenen Land äußern.

Fühlen Sie sich in den reicheren Regionen Europas manchmal wie Exoten? Denken Sie, wir wollen unser Gewissen erleichtern, wenn wir Sie einladen?

Kornél Mundruczó: Da ist schon etwas Wahres dran, dennoch hilft uns diese Art der Solidarität. Es ist schon verrückt, dass wir jetzt die Exoten in Europa sind. Vor zehn Jahren galt das noch für Künstler aus Afrika oder Asien, aber heute gilt das für uns aus der Mitte Europas. Aber wir werden jetzt nicht in Selbstmitleid versinken, sondern weitermachen und das verkünden, was wir zu sagen haben – nicht nur im Ausland, sondern auch in unserem Land. Neben den großen Festivalproduktionen organisieren wir ehrenamtlich auch kleinere Auftritte in Ungarn, sozusagen als Dienst an der Gemeinschaft. Wir hoffen, dass die Menschen langsam erkennen, dass alles nur schlimmer wird und Freiheit das wichtigste Gut ist, und dass sie diese Regierung abwählen.

Wie ist es für Ihre Theaterkompagnie BLITZ? Wie arbeitet Sie in Griechenland? Welche Möglichkeiten haben Sie aufzutreten? Was hat sich für Sie in den vergangenen Jahren verändert?

Aggeliki Papoulia:
Schon vor der Krise galt das Wort „Kultur“ in Griechenland nicht viel, mit Ausnahme der Erhaltung des antiken griechischen Kulturerbes. Dafür wird der größte Teil der Kulturinvestitionen ausgegeben. Heute ist die Lage noch dramatischer geworden, aber eine Kulturpolitik, die neue interessante Projekte unterstützt hätte, gab es in unserem Land noch nie. Man könnte sagen, Griechenland war schon immer in der Krise – kulturell wie gesellschaftlich. Unsere Theatergruppe BLITZ wurde 2004 gegründet. Wir haben dreimal versucht, vom Kulturministerium finanzielle Unterstützung für unsere Produktionen zu erhalten, und haben auch ein bisschen Geld bekommen. Über einen Zeitraum von neun Jahren konnten wir insgesamt 50.000 Euro ausgeben. Doch seit 2008 haben wir keinerlei staatliche Hilfe mehr erhalten. Alle unsere Aufführungen sind Koproduktionen, zum Beispiel mit dem Athener Festival oder dem Nationaltheater. Unser letztes Stück wurde von der Onassis-Stiftung koproduziert.

Es erscheint mir merkwürdig, dass ausgerechnet reiche Reeder wie die Familie Onassis in Griechenland aufmüpfige Kunstprojekte finanzieren ...

Christos Passalis: Stimmt. Da besteht ein Widerspruch.

Aggeliki Papoulia: Aber wir haben keine anderen Möglichkeiten, wenn wir arbeiten wollen.

Wie wichtig sind Tourneen und internationale Festivals für Sie?

Aggeliki Papoulia: Wir wollten immer Reisen und Arbeit verbinden und nicht nur in unserem Land auftreten. In den vergangenen zwei Jahren waren wir viel auf Tour und nur so können wir zurzeit unseren Lebensunterhalt verdienen. Ich denke, wir sind gerade irgendwie angesagt. Menschen im Ausland begegnen uns mit einer bestimmten Art von Neugier, so als wollten sie sich durch Einladungen und den Besuch unserer Aufführungen von einer Schuld reinwaschen.

Wählen Sie Ihre Stücke oder die Themen, die Sie ansprechen wollen, mit Hinblick auf die politische, wirtschaftliche und soziale Realität?

Kornél Mundruczó: Ja, seit die Krise da ist. Die Leute werden vom Radio, dem Fernsehen und den Zeitungen ständig daran erinnert. Es ist wichtig, ihnen neue Perspektiven darauf zu geben und alternative Erklärungen für das, was vor sich geht.

Aggeliki Papoulia: Wir wollen etwas anderes bieten als die Medien und die Nachrichten. Wir wollen eine Möglichkeit sein, aus diesen für die Leute so angstbesetzten Narrationen zu fliehen. In Griechenland ist das dominante Gefühl Angst und nicht Wut, und das erscheint mir fast noch schlimmer. Wir glauben nicht, dass das Theater die Welt verändern kann. Aber man muss gegen diese Angst aufbegehren, denn sie ist nur schwer zu ertragen. Auch für uns Künstler wird es jeden Tag verwirrender und wir sind absolut nicht imstande, Lösungen für die Probleme zu finden oder Alternativen aufzuzeigen. Es wird immer schwieriger, zu einer Stimme zu finden, die sich der Situation entgegenstellt und mit den Themen angemessen umgeht.

Wie könnte eine künstlerische Antwort auf die politische Krise aussehen?

Kornél Mundruczó: Eines unserer Projekte hieß „Frankenstein“, weil ich fand, dass wir in einem Frankenstein-Land leben und das auch eine gute Metapher für Europa ist. Wir schaffen Monster ohne ihnen entgegenzutreten. Dann habe ich „Schande“ von J.?M. ­Coetzee auf die Bühne gebracht, weil mich der Umgang mit Schuld interessierte und wie nach dem Ende der Apartheid das Land neu aufgeteilt wurde. Das sind Themen, die sich auch gut auf Europa übertragen lassen. Und gerade arbeite ich an einem Projekt über Demenz. Es geht darum, wie wir ständig alles um uns herum vergessen und so permanent die gleichen Probleme entstehen lassen.

Was hat für Sie mehr Wirkung im Theater – Dokumentarisches oder Fiktion?

Kornél Mundruczó: Ich bin sehr skeptisch, was die Wirkung von dokumentarischem Theater angeht. Für mich ist es sehr wichtig, mich in die Zuschauer hineinzuversetzen und mich zu fragen, wie ich sie Teil der Inszenierung werden lassen kann. Es ist in Ordnung, ins Theater zu gehen, um sich unterhalten zu lassen. Ich mag es, Geschichten zu erzählen. Aber die Leute sollen ihre intellektuelle Distanz aufgeben und Teil des Geschehens werden. Manchmal gelingt es, manchmal auch nicht.

Das Gespräch fand im Rahmen des Festivals Internationale Neue Dramatik F.I.N.D. 2013 im März in der Schaubühne Berlin statt.
Aus dem Englischen von Karola Klatt