Welche Angst?
Wie die Menschen in Pakistan in ständiger Bedrohung leben
Im vergangenen Jahr saß ich in der Berliner U-Bahn auf dem Weg ins Kino. Die Türen öffneten sich und ein junger Mann mit einer Tasche kam herein. Er öffnete sie, holte seinen neuen Laptop heraus und begann zu tippen. War er verrückt? Wollte der ausgeraubt werden? Fast hätte ich ihn aufgefordert, seinen Computer einzustecken. Doch bevor ich mich blamieren konnte, fiel mir ein: Ich bin nicht in Pakistan.
Tausend Meilen lagen zwischen mir und meiner Heimat, aber immer noch bestimmte permanente Angst meine Gedanken – Angst vor Diebstählen, Angst vor Entführungen, Angst vor Protesten, Angst vor Bombenanschlägen. Angst hat mich gezwungen, mich immer bedeckt zu kleiden. Angst war der Grund, weshalb ich Menschenmengen an öffentlichen Plätzen mied. Die ständige Angst hatte mich gelehrt, niemals weit vorauszuplanen, denn es war nie klar, ob ich die nächste Woche erleben würde. Noch dazu sorgte meine Arbeit als Journalistin in Pakistan dafür, dass ich meine tägliche Extraportion Angst abbekam. Ich schrieb über sie, ich sah sie, ich las von ihr. Und am nächsten Tag wieder von Neuem.
Ich habe eine Weile gebraucht, um mich an das sichere Leben in Deutschland zu gewöhnen. Dabei sollte ich mich glücklich schätzen, denn nicht viele Pakistaner können diese Erfahrung machen. Doch gerade, als ich mich an diese Sicherheit gewöhnt hatte, kehrte ich zurück nach Karatschi und die täglichen Tragödien meines Landes schockierten mich umso stärker. Als ich Familie und Freunde zu diesem „Leben mit der Angst“ befragte, antworteten die meisten: „Welche Angst?“ Aus ihrer Sicht war mein Entsetzen eine Überreaktion auf die täglichen Morde und Explosionen.
Während ich mich fragte, wie meine Angehörigen in einem Zustand der ständigen Furcht leben konnten, ohne den Lebensmut zu verlieren, verstand ich, dass ich selbst wieder in dem Leben angekommen war, das Millionen Pakistaner täglich führen. Unbemerkt hatte ich mich wieder gewöhnt an die die Bombenangriffe, die Entführungen, die Morde, die Streiks, die Karatschi wie eine Geisterstadt erscheinen lassen.
Ich habe inzwischen begriffen, wie der Ausgleich dieser Angst funktioniert: Wenn Angst unüberwindbar und allgegenwärtig ist, wird man furchtlos, belastbar, übermenschlich. Wie in Geschichten über normale Leute, die plötzlich ein anderthalb Tonnen schweres Auto heben können, um ein Kind oder eine geliebte Person zu retten – genauso schaffen wir Pakistani es, trotz unserer Furcht große Wunder zu vollbringen.
Ist nicht der tägliche Weg zum Arbeitsplatz, an dem nur ein paar Stunden zuvor eine Bombe explodierte, bereits eine Heldentat? Ist es nicht eine Leistung, dass die meisten Pakistaner ohne psychologische Betreuung zurechtkommen, nachdem sie gepeinigt und missbraucht wurden oder geliebte Menschen verloren haben? Ist es nicht ein Wunder, dass pakistanische Kinder weitermachen und lächeln, obwohl sie Dinge gesehen haben, die nicht einmal Erwachsene ertragen können?
Erst wenn wir die furchteinflößende Umgebung verlassen, merken wir, dass die Angst überhaupt da war. Mir kam dieses Bewusstsein auf einem Konzert in Berlin: mehr als 5.000 Besucher, und es gab keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen, keine Wachleute, die die Leute durchsucht hätten, kein Sprengstoffkommando, das bereitstehen würde beim geringsten Verdacht auszurücken. Das Konzert begann friedlich und es endete friedlich. Und dort, mitten in der Menschenmenge, mich im Takt der Musik wiegend, weinte ich das erste Mal in Berlin. Es waren keine Freudentränen. Ich fühlte den Schmerz meines Landes. Ich fühlte die Aussichtslosigkeit unserer Jugend, die Wut und die Hilfslosigkeit meines Volkes, gerade an einem so heiteren Ort, weit entfernt von Pakistan.
Es war schrecklich zu wissen, dass ich dieses sichere Leben nur für einen begrenzten Zeitraum führen werde. Aber noch schlimmer war die Gewissheit: In meinem Heimatland werde ich diese Sicherheit zeit meines Lebens nicht erfahren können.
Aus dem Englischen von Martin Schiersch