Stolz und Vorurteil
Das chinesische Volk hat ein Gefühl, behaupten die Machthaber in Peking immer dann, wenn die internationalen Beziehungen belastet sind. Stimmt das?
Es wirkt wie ein Reflex: Immer, wenn Kritik aus dem Westen an die Adresse Pekings laut wird, schallt zurück: „Ihr verletzt das Gefühl des chinesischen Volkes.“ Ob es um Proteste gegen die Pekinger Olympiade geht, um Interventionen wegen Menschenrechtsverletzungen oder Beschwerden über Umweltschäden, die Reaktion bleibt stets gleich und wirkt im Westen. Oftmals.
Investoren ängstigen sich dann um ihre Geschäfte mit China. Wohlmeinende China-Experten erinnern an den chinesischen Stolz, der durch den Kolonialismus verletzt wurde. „Belehrt sie nicht auch noch mit der moralischen Keule!“, wird gefordert. Mancher hierzulande nimmt die Außenwelt nur in Beziehung zu sich selbst wahr: Müssen wir China dafür dankbar sein, dass wir billig einkaufen können? Oder bedroht das Land als Großmacht unser Gefühl, der Nabel der Welt zu sein? Nicht selten stehen, statt dem Gefühl des chinesischen Volkes in der Ferne, die Gefühle westlicher Menschen im Fokus der Debatte.
Mit Chinas Realität hat das alles wenig zu tun. Es sind oft genug Chinas Machthaber selbst, welche die Gefühle vieler Chinesen – und nicht nur ihre Gefühle – verletzen. 2008 bekamen Olympiade-Besucher aus dem Westen bestes Trinkwasser frei Hotel geliefert, wofür 15 Millionen Chinesen um Peking herum dursten mussten. 2010 meldete die US-Botschaft in Peking eine gefährliche Feinstaubkonzentration in der Stadt. Chinas Umweltministerium verbat sich schnell diese Einmischung, doch Pekings Bürger haben das Vertrauen in ihre Behörde längst verloren und orientieren sich lieber an den angeblich beleidigenden Warnungen westlicher Botschaften.
Freilich gibt es auch Bilder, die an ein verletztes Volksgefühl glauben lassen: Im Oktober 2012 skandierten, als der chinesisch-japanische Konflikt um eine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer wieder aufflammte, wütende Demonstranten in 117 Städten: „Lieber leben wir in einem China, wo kein Gras mehr wächst, als die Diaoyü-Inseln aufzugeben!“ Tritt da nicht ein authentisches Gefühl des Volks zutage? Dass diese Parolen faschistoid klingen und die Auslandsstudenten aus Fernost, die sie brüllten, Gewinner des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs sind und anders denken als die Verlierer – all dies hindert manchen im Westen nicht, nach solch kraftvoll demonstrierten „Gefühlen des Volkes“ diplomatische Zurückhaltung anzumahnen.
Es ist eine menschliche Neigung, eigene Gefühle durch eigene Interessen lenken zu lassen. In totalitären Systemen werden dem Volk zum Herrschaftszweck politisierte Gefühlsmuster antrainiert. Als Schüler mussten wir kerzengerade auf dem Sportplatz sitzen und stundenlang Werktätigen zuhören, die über ihre bitteren Erlebnisse in der „alten Gesellschaft“ vor der Gründung der Volksrepublik China klagten. Unsere Aufgabe: adäquate Mienen aufsetzen und Ergriffenheit zeigen. Trauer war das Minimum, besser war Wut. Gefolgt von impulsiv hervorgebrachten Gelöbnissen. Wehe dem, der es nicht schaffte, das Minimum, also die Trauer, mit Tränen zu illustrieren.
Lange vorbei, aber keineswegs aufgearbeitet, ist die Mao-Zeit. Ganz intakt ist auch heute noch der Effekt der Ausgrenzung im Massenrausch. In Changsha, in Zentralchina, wurden jüngst nicht nur Japaner terrorisiert. Auch Chinesen wurden verprügelt, weil sie es wagten, inmitten der wogenden Wut des Volkes gegen Japan Autos von Toyota zu fahren.
Historisch bleibt der Nationalismus eine westliche Erfindung der Moderne. Aus dem Bewusstsein, dass ein pauschalisierendes „Volksgefühl“ das Naziregime in Deutschland einst möglich gemacht hat, entstanden hier Gegenbewegungen. Nun setzt genau dieser Prozess auch in China ein. Als im Herbst 2012 ein General der Volksbefreiungsarmee anregte, im Kriegsfall Tokio zu bombardieren, bezichtigten ihn Tausende Blogger faschistoider Tendenzen und empfahlen ihren Lesern, zum Thema Massenpsychologie in der Diktatur den deutschen Spielfilm „Die Welle“ anzusehen, den es in perfekter chinesischer Übersetzung online zu sehen gibt.
Über derartige Gefühlsäußerungen, die sich in China und über Chinas Grenzen hinaus verbreiten, liest man hierzulande wenig. Als der Dichter Liao Yiwu von den Misshandlungen berichtete, die er in chinesischen Gefängnissen erlitten hatte, beeilte sich der Sinologe Wolfgang Kubin in der Zeit zu argwöhnen, der Dissident übertreibe seine Darstellungen. Gewiss: Mit dieser Äußerung verletzt der Professor kaum das Gefühl eines ganzen Volkes. Er streut nur Salz in die Wunden vieler Unterdrückter.