Kann man so nicht sagen
Esther Kinsky blickt in einem Essay auf ihre langjährigen Erfahrungen als Übersetzerin zurück
Als Übersetzer will man vom Übersetzen nichts mehr lesen. Keine Theorien, die Selbstverständliches zur Wissenschaft aufplustern, keine Klagen von Praktikern über ihre wenig anerkannte Kärrnerarbeit. Wann hat zuletzt jemand wirklich nachgedacht über das Übersetzen? Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Martin Buber ...
Das Buch von Esther Kinsky aber ist eine Überraschung. Balsam schon das Fehlen technizistischer Wieselwörter wie „Ziel-“ oder „Quellsprache“ oder „Äquivalent“. Kinskys eigene Sprache ist Ausdruck und Mittel beharrlichen Nach-Denkens und führt zu Begriffsschöpfungen wie dem titelgebenden „Fremdsprechen“. Dieses Wort verliert die ihm innewohnende Unschärfe zwischen transitiver und intransitiver Bedeutung nie. „Fremdsprechen“ meint sowohl die fremde Sprache sprechen als auch die Welt in dieser anderen Sprache zu einer fremden machen: Die Urgroßmutter will sich ihren Tisch nicht als „table“ fremdsprechen lassen. Lässt man die Assoziation mit „Fremdgehen“ zu, kommt man auf das Erregende jener Sprache, die nicht die von Kindheit an vertraute, nicht die Muttersprache ist. Die Geliebtensprache also? Kinsky deutet die Rolle der Leidenschaft für ihre übersetzerische Biografie an, wenn sie von einem „Sehnsuchtsgelände zwischen Dnjepr und Weichsel“ spricht.
Eine ganze Palette bekannter Probleme behandelt die Autorin aus der Sicht eigener Erfahrung: die Schwierigkeiten deckungsungleicher semantischer Skalen, besonders der Farben (das deutsche „Blau“, für das es im Polnischen mehrere Begriffe gibt, oder die schwer übersetzbaren englischen Farbtöne „russet“ und „rowan“); der Umgang mit der Zeit als prägendem Charaktermerkmal einer Sprache; der das Deutsche überfordernde Reichtum des Slawischen und Ungarischen an Fluch- und Schimpfvokabular.
Je weiter sich ein Stil von „Konventionsgeländern“ entfernt, je privater die Sprache eines Textes, desto schwieriger die Übersetzung. Kinsky selbst hat bei Miron Bia?oszewski und Zygmunt Haupt ihre Kunst – eben nicht nur ihr Können – in der Aneignung schwieriger Autoren bewiesen. Sie plädiert für ein gutes Stück Fremde, etwa die direkte Übersetzung idiomatischer Redewendungen.
Immer wieder finden sich ganz persönliche Beobachtungen. Wunderbar die, wie sich beim Übersetzen im Raum zwischen beiden Sprachen, ewig geheimnisvoll und unberechenbar, Wege in die Erinnerung auftun. Im ungarischen Wort „kenyér“ für „Brot“ verbindet sich das Fremde, Balkanische Budapests mit der Erinnerung an das Brot der eigenen Kindheit.
Aus der Verbundenheit der Sprache mit eigener Geschichte folgt das Gebot, nur in die vertrauteste, meist die Muttersprache, zu übersetzen. Zuwiderhandlungen geben reichlich Anschauungsmaterial fürs Seminar, vermögen aber das Werk in der neuen Sprache nicht zur Geltung zu bringen. Sprache ist keine Regelsammlung, die man zu beliebigem Zeitpunkt erlernen könnte, sondern ein Gespinst von Assoziationen und Erinnerungen, das mit der Zeit wächst. Jedes Wort, das wir im Munde führen, hat einen langen Weg zurückgelegt.
Sehr aufschlussreich ist der Teil über das Kräfteverhältnis von Schreiben und Übersetzen. Soll der Übersetzer den Autor befragen? Nein, maßgeblich ist der Text. Der Autor muss „loslassen“ können, muss hinnehmen, dass der Übersetzer auf subjektive, eigenständige Weise übersetzt. Was aber, wenn man einen eigenen Text überträgt und sich selbst befragen kann? Dass dies die Sache keineswegs leicht macht – obwohl einem hier niemand sagen kann: „Das ist falsch“ –, erörtert Kinsky am Beispiel eigener, auf Englisch verfasster Prosastücke, die sie selbst ins Deutsche übertrug. „Point of Departure, A Leave-taking“, dem Band angehängt, lohnt die Lektüre auch unabhängig von ihrer Beispielfunktion.
Selbst Autorin, braucht Kinsky in der leidigen Statusfrage des Übersetzers nichts schönzureden. Gegen die Wucht des Autor-impulses kommt die Übersetzung als nachschaffende Geste nicht an. Eigenmächtigkeiten sollte der Übersetzer sich verbieten, auch wenn er in seiner Sprache mangels Entsprechungen nur die Wahl zwischen Lücke und Lückenbüßer hat. Jede Übersetzung ist als Werk einmalig, wenn auch nur eine von vielen Lesarten des Originals. Doch den Kunstanspruch, den sie der Übersetzung eben noch zugebilligt hat, erschüttert Kinsky in einem Vergleich, der die ewige Unsicherheit wieder bloßlegt: Keine Neuübersetzung nehme der vorhergehenden ihre „Gültigkeit“, als Kunstwerke können sie nebeneinander existieren, so wie die „unzähligen Marien-mit-dem-Kinde auf Goldgrund“. Ach, diese Art Kunstwerk, denkt man. Das Original gottähnlich, die Übersetzung ein Abbild?
Kinskys ganzes Buch zeigt, dass die Sache so einfach nicht ist. Sie selbst ist ja die lebende Entkräftung jeden Verdachts auf Zweitrangigkeit. Doch wer so souverän zwischen den fremden und der eigenen Sprachwelt, zwischen Übersetzen und Schreiben hin und her wechselt, darf sich ruhig auch einmal subtil widersprechen.
Fremdsprechen. Gedanken zum Übersetzen. Von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin, 2013.