Im Brunnen des Unbewussten
Wer ein Gedicht schreiben will, muss sich öffnen können
Gedichte zu schreiben hat wenig mit dem Intellekt zu tun und deshalb ist es ziemlich schwierig, intelligent über das Dichten zu sprechen. Kunst verweigert sich der Erklärung; entweder sie gelingt oder sie gelingt nicht, denke ich, und alles Herumdeuteln macht sie auch nicht besser. Dennoch will ich versuchen zu beschreiben, wie ich schreibe – ein Prozess, der mir noch immer schleierhaft ist.
Es dauerte Jahre, bevor ich die Art von Lyrik fand, die ich wollte – und weitere Jahre, bevor ich etwas halbwegs Lohnenswertes zu Papier bringen konnte. Alles, was mir begegnet und echtes Interesse weckt, beeinflusst mein Schreiben, doch mir war, glaube ich, schon sehr früh klar, dass man diese Erfahrungen einige Zeit in dem – wie Coleridge es nennt – „stromförmigen Brunnen des Unbewussten“ einwirken lassen muss, bevor man sie auf verblüffende Art verwandelt wieder in die bewusste Welt heraufholt.
Gedichte beginnen für mich als Fragmente – als einzelne Wörter und Ausdrücke und Bilder. Sie treiben in meinem Unterbewusstsein, suchen nach Partnern, einem Zuhause, nach Vervollständigung. Manche sind frisch; andere sitzen schon seit zwanzig Jahren in Notizbüchern und warten geduldig auf das passende Gegenstück. Dafür braucht es den Sog eines Magneten. Schreiben ist ein Akt der Neugier, des Entdeckens, des Staunens; ein Versuch, eine Wahrheit, eine Lösung eines Problems zu finden – und meine Gedichte widmen sich in ganz ähnlicher Weise gewissen verborgenen Sorgen und Ängsten, wie es Träume tun. Jene tief verwurzelten Schwierigkeiten haben eine gewaltige Sogkraft und scheinen die entsprechenden Metalle (jene oben erwähnten Fragmente) anzuziehen, die sich dann um dieses gemeinsame Interesse oder Thema – diese bewusste oder unbewusste Sorge – herum scharen, als reagierten sie auf ein Gravitationsfeld. Ich lerne durch ihre Interaktion und fange an, die Form und Richtung des Gedichts zu erkennen, je nachdem wie diese Wörter und Bilder ihre Partner wählen und wie sie schließlich zusammenpassen.
An diesem Punkt bin ich wie ein Gastgeber, ich trete zurück und lasse etwas geschehen. Ich gebe diesen Obdachlosen und Streunern – diesen Wörtern, Ausdrücken und Bildern – nur einen Raum, schaffe einen Ort, an dem sie aufeinandertreffen können. Während dieses gesamten Zuwachsprozesses bin ich darauf bedacht, die Tür zum Unbewussten unverriegelt zu lassen – angelehnt. Ich möchte einen eigenartigen Zustand der Offenheit erreichen, in dem diese Fremden zusammenkommen und sich miteinander verbinden. Ich mag diese Dringlichkeit, wenn sie es dann tun: wenn sie schließlich zu tanzen beginnen.
Sobald ich eine grobe Form habe, kann ich ans Werk gehen und anfangen, sie zu bearbeiten, als wäre sie Holz oder Stein, all das wegschleifen, was redundant ist. Erst dann, wirklich erst dann, begreife ich, worum es in dem Gedicht möglicherweise geht, und ich fange an, seinen Klang zu hören. Der Reiz besteht für mich darin, den Zeilen zuzuhören, während sie sich in die Musik einklinken, die ich im Kopf hatte. Ich versuche, genau auf das Gewicht und die Textur und den Klang der Worte, ihre akustischen und semantischen Beziehungen einzugehen. Dann verstärke ich nur jene musikalischen Muster, um aus den Worten und den Zeilen ein enges Geflecht zu machen, und zurre das Gedicht so fest, wie ich nur kann.
Mich interessiert dabei, die Sprache arbeiten zu lassen, und in der Lyrik muss Sprache am härtesten arbeiten. Wie Michael Hoffmann an einer Stelle sagt: „Prosa ist inklusiv, Lyrik ist exklusiv ... Ihrem Wesen nach reduziert, schärft, destilliert, komprimiert Lyrik.“ Lyrik, so könnte man auch sagen, verhält sich zur Prosa wie ein Single Malt zu einem Glas anständigen Biers: stärker und konzentrierter, aber nicht unbedingt besser. Das ist vielleicht eine Geschmacksfrage, doch ich bin immer noch eher der Whisky-Typ.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte