Innenleben

Du

Muss ein Gegenüber immer ein Mensch sein? Wie virtuelle Welten in Japan real werden

Will man einen „Otaku“ sehen, geht man am besten nach Akihabara. Dieser Stadtteil von Tokio ist ihr Reich. Ein Otaku ist ein Mann zwischen etwa zwanzig und vierzig. Er meidet den Blickkontakt mit anderen Leuten und ist nachlässig gekleidet, in billigen Jeans und Turnschuhen, mit einem ausgebeulten Rucksack auf dem gekrümmten Rücken. Das Aussehen hat für ihn keine Bedeutung. Er kommt ja ohnehin nur selten aus seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung. Es gibt schätzungsweise drei Millionen Otakus in Japan und sie geben jährlich rund 290 Milliarden Yen (rund 2,2 Millarden Euro) aus, um ihrer Leidenschaft und ihrem Vergnügen zu frönen. Unzählige weitere sind „nur ein bisschen Otaku“. Die Kultur der Otakus entstand in den 1970er-Jahren und gelangte in den 1980ern, der Zeit der japanischen Bubble Economy, zu voller Blüte. Die Jahrtausendwende markierte den Höhepunkt dieses Trends. Heute ist die Subkultur der Otakus nicht verschwunden, sondern hat vielmehr in verschiedenen Ausprägungen ganz Japan ihren Stempel aufgedrückt.

Der gängigsten Definition zufolge ist der Otaku ein Kind der Medien, ein Einzelgänger mit suchthafter Abhängigkeit von Manga-Comics, Anime-Zeichentrickfilmen, Computerspielen und anderen Produkten der japanischen Populärkultur. „Otaku“ heißt „du“. In der japanischen Sprache gibt es viele Arten „ich“ oder „du“ zu sagen, je nach Alter, Rang, Geschlecht und etlichen anderen Faktoren. Otaku ist eine höfliche Form des Du, die eine gewisse Distanz zwischen zwei Gesprächspartnern zum Ausdruck bringt. Wer diese Form benutzt, schließt von vornherein eine persönliche Anteilnahme am Leben des Gegenübers aus und schirmt sich selbst mit einem Wall der Unnahbarkeit ab.

Die überwältigende Mehrheit der Otakus sind Männer, die sich dadurch auszeichnen, dass sie alle anderen Dimensionen des Lebens ihren materiellen Leidenschaft unterordnen. Es mag sein, dass ein Otaku eine Arbeit hat und nicht schlecht verdient, aber er wird keine Familie gründen und auch nicht in einer Beziehung leben, jedenfalls nicht mit einem menschlichen Lebewesen. Seine Hauptbeschäftigung ist das besessene Anhäufen von Informationen über seine Lieblingsprodukte und Idole und das Sammeln der entsprechenden Gegenstände und Figürchen. Nun tut dies jeder Sammler, doch ein Otaku unterscheidet sich durch seine Beziehung zum Objekt seiner Leidenschaft, das ihm zwischenmenschliche Kontakte, Freundschaften und erotische Beziehungen ersetzt. Die Bish?jo, so die Bezeichung für das Ideal des schöne Mädchens, in dessen Aussehen sich Niedlichkeit und Unschuld mit ungefährlicher Erotik mischen, hat den Otaku – in der Regel ein Junge oder Mann, der reale Frauen als unzugänglich oder gefährlich betrachtet – von Anfang an fasziniert.

Die Heldin Sailormoon aus dem Manga von Naoko Takeuchi (1992) hatte auf die Kultur der Otakus besonders starken Einfluss. Sie ist die mit bösen Mächten kämpfende Kriegerin und gleichzeitig die 14-jährige Tokioter Schülerin Usagi Tsukino. Sailormoon hat langes blondes Haar und große Augen, trägt eine Schuluniform mit roter Schleife auf der Brust und erstarrt allenthalben in niedlichen Posen, dutzendfach imitiert von Mädchen, die sich genauso anziehen, in Japan und anderswo. Ende der 1990er-Jahre wurde die Lolita ohne jede Geschichte, nur zum Vergnügen zu betrachten oder zu besitzen, das Hauptinteresse der Otakus. Ein solches ohne seine Existenz erklärende Erzählung geschaffenes Maskottchen ist beispielsweise Digiko. Sie wurde 1998 auf die Bedürfnisse eines mit dem Verkauf von Anime und Computerspielen befassten Unternehmens zugeschnitten, doch verliebten sich die Otakus so sehr in sie, dass sie bald in Reklamen auftauchte, ein Zeichentrickfilm mit ihr als Hauptfigur produziert wurde und sogar ein Roman mit Digiko in der Hauptrolle erschien.

Das Geheimnis ihres Erfolgs ist „moé“, ein Begriff, der den Schlüssel zu Emotionalität und Sexualität des Otaku liefert. Das Wort „moé“ gibt es seit Jahrhunderten, doch in der neuen Bedeutung kam es erst Ende der 1980er-Jahre in Umlauf. Über seinen Ursprung ist man sich nicht ganz einig. In der Welt der Otakus enthält „moé“ die Bedeutung von zwei verschiedenen Worten: „knospen“ und „brennen“. Im Japanischen sind diese beiden Worte einander klanglich gleich. „Moé“ bezieht sich in diesem Zusammenhang also auf den Anblick der knospenden – im Sinne von jungen, frischen – Schönheit eines Mädchens. Es ist sowohl eine Eigenschaft, die jemand (die schöne Lolita) haben kann, als auch das Gefühl, das jemand (der Otaku) ihr gegenüber nährt. „Moé“ bezeichnet ein Gefühl, das durchsetzt ist mit unerfüllter, auf Phantasien beschränkter Erotik und dem Wunsch, die anmutige, kindlich-reine Gestalt eines schönen Mädchens oder mädchenhaften Wesens zu beschützen. „Moé“ bewirkt, dass eine von diesem Gefühl erfüllte Person das Objekt der Anbetung in seiner Nähe haben möchte – als Darstellung, Figürchen, Puppe. Der Begriff der „moé“ beinhaltet keine autoerotische Aktivität, führt aber wahrscheinlich dazu. Im Falle der Puppenanhänger nimmt „moé“ pygmalionhafte Züge an.

Die Puppe (groß wie ein junges Mädchen und beunruhigend realistisch), deren Kauf als „Adop­tion“ bezeichnet wird, besteht aus Teilen, die der Otaku einzeln aussucht und zusammenstellt, sie ist sein Werk und seine Liebe. Zu den Attributen, die eine als Verkörperung der „moé“ betrachtete Gestalt besitzen soll, gehören: weibliches Geschlecht, noch nicht erwachsen oder gekennzeichnet durch eine hybride Mischung weiblicher und kindlicher Merkmale, große Augen (ein Fünftel des Gesichts), die Tracht eines französischen Zimmermädchens oder eine Schuluniform, Katzen- oder Kaninchenohren, zu einer Herzform zusammengelegte Hände, ein Katzenschwanz, grüne oder blaue, antennenartig abstehende Haare mit Glöckchen, schmale Gliedmaße, zusammengerutschte (zu große) Strümpfe.

In einer bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 1990 schreibt der Mediensoziologe Volker Grasmuck, dass die Otakus aus den Versprechen des Zeitalters von Technologie, Konsum und Kommunikation radikale Schlüsse ziehen. Sie glauben daran, dass man durch Knopfdruck Herr der Welt sein kann, dass alles käuflich ist, dass ein Kontakt von Angesicht zu Angesicht überflüssig und lästig ist, da man ja Computer und Mobiltelefone hat. Die Otakus gehören einem postsexuellen Zeitalter an und brauchen keine Frau aus Fleisch und Blut. Anstatt zu versuchen, den hohen Erwartungen des anderen Geschlechts gerecht zu werden, entscheiden sie sich dafür, am Rand zu bleiben. Für virtuelle Mädchen braucht der Otaku keine Kleidung von Comme des Garçons, keine Körperpflege und keinen Sport. In der Subkultur der in virtuelle Gestalten verliebten Otakus lässt sich die Erfüllung einer Prophezeiung Susan Sontags sehen, die eine Ära des Sex ohne reale Körper heraufdämmern sah.

Typisch für die westliche Rezeption des Otakuismus ist die Betonung der positiven Merkmale des Phänomens und die Identifikation mit dem von den Otakus vertretenen extremen Individualismus und ihrer passiven Ablehnung des sogenannten „normalen Lebens“. Otakus sind Singles, die weder Macho noch metrosexuell sein wollen. Sie kleiden sich nicht modisch, sind verschlossen und haben nicht die geringste Absicht, sich dem Ideal von „Er und sie plus zwei süße Kinder“ anzupassen. Sie wollen nicht die Besten oder die Schnellsten sein. Ganz im Gegenteil – sie schaffen eine alternative Realität, in der die Rolle des unartigen Jungen die einzig mögliche Antwort auf den Horror einer Welt ohne Richtung, Sinn und Werte ist. Die Otakus gehen in ihrer Abkopplung von der Gesellschaft so weit, dass sie jedem sexuellen und emotionalen Kontakt mit Menschen entsagen. In den 1990er-Jahren stellte sich heraus, dass im Westen nicht wenige im Otaku ihr Spiegelbild erkennen. Ein Teil der Leidenschaften und Absonderlichkeiten des Otakus erscheinen ihnen ganz vertraut.

Die infantilisierende Wirkung der Konsumwelt, die durch technologisch hoch entwickelte Vermittlung gestalteten zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich zum Teil nur noch im virtuellen Raum abspielen, das zwanghafte Kaufen von Dingen und die Anhäufung von Informationen auf unseren Computern – das alles ist uns aus dem Alltag vertraut. Beim Spaziergang durch Akihabara kommt mir der Gedanke, dass die japanischen Otakus wahrscheinlich nur eine von vielen Ausprägungen des Hyperindividualismus und vor allem der Hyperrealität sind, die uns heutzutage immer dichter umschließen.

Aus dem Polnischen von Esther Kinsky

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