Innenleben

Die Tränen des Premiers

Welche Rolle Gefühle in den internationalen Beziehungen spielen

Seit Beginn der Finanzkrise 2008 ist in den ausländischen Medien immer wieder die Rede von der „German Angst“. Wenn über Angela Merkels Zögerlichkeit bei einem Rettungspaket gerätselt wird, wenn die deutschen Firmen Rekordumsätze vermelden und auch alle anderen Quartalsdaten nach oben zeigen, die Umfragen jedoch große Zukunftsängste der Bevölkerung offenbaren – dann wird gerne ein emotionaler Kollektivstereotyp bemüht. Das gilt auch umgekehrt. Die Portugiesen fallen mit der Krise in ihre typisch portugiesische „saudade“, eine bittersüße, nostalgische Melancholie, zurück – finden die Deutschen. „German Angst“, portugiesische „saudade“ oder auch die britische „stiff upper lip“ – die Oberlippe, die nie ins Zittern gerät: Nationen stellen sich selbst als anders als andere Nationen vor, und eben auch als unterschiedlich fühlend. Gefühle spielen eine Schlüsselrolle in internationalen Begegnungen auf allen Ebenen.

Emotionale Kollektivstereotypen schaffen eine Identität, eine Vorstellung vom Selbst, immer über Abgrenzung von einem anderen. Das kann auf der Ebene der Nation geschehen, wenn sich zum Beispiel Briten von Franzosen oder Deutschen abgrenzen. Gleiche Tendenzen konnte man während des 20.?Jahrhunderts aber auch auf der Ebene unterhalb der Nation beobachten, zum Beispiel in der Abgrenzung der Männer von Frauen, der Bewohner der britischen Inseln von Bewohnern der Kolonien oder heterosexueller Männer von Schwulen. Die realen Effekte des Stereotyps sind nicht zu unterschätzen und werden zunehmend ernst genommen: Anfang 2013 machte eine Meldung die Runde, nach der die Briten bei der Krebsvorsorge hinter anderen Europäern zurückfallen, da die „stiff upper lip“ es ihnen schwerer als anderen mache, rechtzeitig den Arzt aufzusuchen.

Dennoch ist bisher wenig über die Erfindung nationaler Gefühlsstereotypen geschrieben worden. Auch welche Rolle Gefühle Einzelner in der Geschichte der internationalen Beziehungen spielen, ist noch kaum erforscht. Das liegt daran, dass die emotionale Wende, der „emotional turn“, die Geschichtswissenschaft erst vor Kurzem erreicht hat. Für Gefühle interessiert sich erst seit einigen Jahren ein nennenswerter Teil der historischen Zunft. Gewiss, schon 1941 schrieb der französische Historiker Lucien Febvre: „Wir haben keine Geschichte der Liebe, keine Geschichte des Todes.“ Dies sei fatal, denn „solange sie uns fehlen, wird es Geschichte im emphatischen Sinn nicht geben“. Und schon in den 1980er-Jahren sprachen Carol und Peter Stearns in den USA zum ersten Mal von einem eigenständigen Forschungsfeld, der „history of emotions“. Febvre und die Stearns aber blieben einsame Rufer. Erst seit der Jahrtausendwende ist eine echte Welle zu be­obachten, mit Tagungen, Veröffentlichungen und der Gründung von Zentren und Forschungsverbünden auf drei Kontinenten.

Inzwischen wird immer intensiver darüber nachgedacht, welche Rolle die Gefühle von Kaisern und Kanzlern, von Generälen und Generalsekretären, von Präsidenten und Parteiführern in den internationalen Beziehungen spielen. Wenn man nämlich genau hinsieht, wird schnell deutlich, wie wichtig Emotionen in den Zeugnissen dieser Begegnungen sind. Diplomatische Rituale haben oft mit Ehre, Respekt und Gesichtswahrung zu tun. 1898 besuchte der französische Präsident Félix Faure die fast 80-jährige, gesundheitlich angeschlagene britische Königin Victoria in der Nähe von Nizza. Die misslungene Begrüßungszeremonie der beiden sagt viel über die emotionale Kodierung des Widerstreits zwischen zwei Staatsformen – Monarchie und Republik – aus. Denn statt, wie es sich gehörte, den Präsidenten an der Eingangstreppe der Villa zu begrüßen, schickte Victoria ihren Sohn, den Thronfolger, vor. In ihrem Tagebuch notierte Victoria: „Um 15:30 Uhr kam mich Mr. Faure, der Präsident der Republik, der einige Tage im Riviera-Palast verbrachte, besuchen. Bertie (Thronfolger Albert Edward) empfing ihn unten, brachte ihn nach oben, und die drei Prinzessinnen waren mit den Hofdamen oben an der Treppe. Ich stand bei der Tür des Salons und bat ihn, sich zu setzen. Er war sehr höflich und liebenswürdig, hat eine charmante Art, so ‚grand seigneur‘-artig und überhaupt nicht ‚Parvenü‘.“

Allerdings wurde Victorias Tagebuch nach ihrem Tod abgeschrieben und „gesäubert“, das Original vernichtet. Eine andere Quelle lässt erahnen, dass die britische Königin Präsidenten grundsätzlich für Emporkömmlinge hielt und dass diese durch die unterlassene persönliche Begrüßung am Fuß der Treppe ausgedrückte Verachtung bei ihrem Adressaten, Faure, sehr wohl ankam. Der Assistant Private Secretary der Königin beschrieb in seinen 1952 posthum veröffentlichten Memoiren das Eintreffen des Präsidenten in der Eingangshalle nämlich folgendermaßen: „Er blickte sich um, um zu sehen, wer gekommen war, ihn in Empfang zu nehmen, und als er weder die Königin noch den Prinzen von Wales sah, behielt er seinen Hut auf, um anzudeuten, dass der Besuch noch nicht ordnungsgemäß begonnen habe (…) Selbstredend war ein solches Vorgehen nicht im Protokoll vorgesehen und verwunderte uns alle. Als Paris davon später erfuhr, sagte man mir, alle hätten es für unmöglich und sehr schlechtes Benehmen gehalten. Der Präsident wurde dann nach oben geführt, und der Prinz von Wales kam hinuntergeeilt, als habe er sich verspätet. Erst dann, und nur dann, nahm der Präsident seinen Hut ab.“

Im 20. Jahrhundert gewannen die Öffentlichkeit und die Medien an Einfluss, auch bei der zwischenstaatlichen Kommunikation von Akteuren der verschiedensten Ebenen. So kostete die Zurschaustellung heftiger Gefühle den britischen Premierminister Anthony Eden 1957 wahrscheinlich sein Amt. Eden war von zwei Ministern hart für seine Ägypten-Politik kritisiert worden, was bei ihm zu einem Zusammenbruch mit bitteren Tränen während der Kabinettssitzung geführt hatte – der wiederum an die Presse weitergetragen wurde. Edens Nachfolger Harold Macmillan präsentierte sich als kontrolliert und allgemein als Gegenentwurf zu Eden, was besser zur damaligen männlich-britischen „Kultur der Zurückhaltung“ passte.

Wie vielschichtig das Zielpublikum von Emo­tionsdiplomatie im Zeitalter der Massenmedien ist, zeigt folgende internationale Begegnung. Im Januar 2007 empfing der russische Präsident Wladimir Putin die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu bilateralen Gesprächen auf der Regierungsdatscha in Sotschi am Schwarzen Meer. Putin war bekannt, so darf spekuliert werden, dass Merkel, seit sie in der Kindheit gebissen wurde, Angst vor Hunden hat. Schon beim ersten Treffen hatte er ihr ein Stoffhündchen geschenkt. Nun wich in Sotschi von der ersten Minute des Staatsbesuchs an Putins große Labrador-Hündin Koni nicht von seiner – und Merkels – Seite. Selbst bei den Verhandlungen lag sie unter dem ovalen Tisch, was an sich schon eine Verletzung diplomatischer Gepflogenheiten darstellt. Mehr noch: „Ich hoffe, der Hund erschreckt Sie nicht“, sagte Putin maliziös zu Merkel. Dass die Verängstigungsstrategie des Präsidenten aufging, verdeutlicht die Körpersprache der Kanzlerin auf den in der Folge medial verbreiteten Bildern. Putins an sein eigenes Fernsehpublikum gerichtete Botschaft ist die eines familiären, tierlieben Präsidenten, der in lockerer Atmosphäre eine Amtskollegin empfängt. Die an Angela Merkel gerichtete Botschaft ist in der Sprache des furchteinflößenden ehemaligen „Gro­ßen Bruders“ Sowjetunion verfasst: Hier bin ich, der ich dein Land wie meine eigene Hosentasche kenne, denn schließlich habe ich fünf Jahre in der KGB-Residentur Dresden zugebracht, und ich zeige dir, die du das kirchliche Nischengesellschaftsmilieu der DDR verkörperst, jetzt einmal, wer eigentlich der Herr im Hause ist.

Was sich zwischen Akteuren auf dem diplomatischen Parkett „eigentlich“ emotional abspielt, welchen Einfluss die Sinnesorgane bei persönlichen Begegnungen haben und was passiert, wenn sich Politiker buchstäblich „nicht riechen“ können, ist für Historiker freilich schwer zu rekonstruieren. Auch welche Folgen die mediale Repräsentation solcher Begegnungen bei der Entwicklung emotionaler Kollektivstereotypen zeitigt und wie sich Letztere auf den Umgang von Nationen untereinander auswirken, ist empirisch nur schwer zu belegen. Dies sollte Historiker jedoch nicht daran hindern, auch die Gefühlsdimension zwischenmenschlicher Kommunikation zumindest mit zu bedenken, wenn sie die politischen Folgen internationaler Begegnungen analysieren und deren Ursachen zu entwirren versuchen.