Bilder von anderen

Wie unsere Vorstellungen von fremden Völkern entstehen, wird sozialwissenschaftlich kaum erforscht. Weshalb wir auf dieses Wissen nicht verzichten können

Die Griechen leben gerne über ihre Verhältnisse, sind faul und undankbar. In letzter Zeit gab es in der deutschen Presse reichlich über das Griechenbild und dessen Wahrheitsgehalt zu lesen. Mit der aktuellen Finanzkrise haben diese Vorurteile allerdings wenig zu tun. Das negative Image der Griechen geht historisch viel weiter zurück. Der Journalist Eberhard Rondholz hat beschrieben, wo die Wurzeln unseres Griechenlandbildes liegen. Demnach handelt es sich hierbei um die enttäuschte Liebe der sogenannten Philhellenen, der „Freunde des Griechentums“. Als die Griechen sich 1821 gegen die osmanische Herrschaft stellten, betrachtete das übrige Europa die Griechen als Freiheitskämpfer. Während aber die Briten, Franzosen und Russen erfahrene Generäle und Admiräle zu ihrer Unterstützung schickten, träumten die Deutschen von einer Wiedergeburt des antiken Hellas.

Man wähnte die Griechen als direkte Nachkommen der alten Hellenen, die Väter der europäischen Kultur. Die nach Griechenland gereisten dichtenden Philhellenen wurden angesichts der Wirklichkeit, die sie vorfanden, enttäuscht: Aufgrund der Besiedlungsgeschichte sprachen bedeutende Bevölkerungsteile der Peloponnes albanische Dialekte und Orte trugen slawische Namen. Die ernüchterten Deutschen verfassten bissige Beschreibungen über die Menschen in Griechenland und schufen so hierzulande ein negatives Bild von den Neugriechen. Und als später die Griechen begannen, Widerstand gegen die NS-Eindringlinge Adolf Hitlers zu leisten, betrachtete das NS-Regime das Erbe des antiken Hellas als für immer verloren und erklärte die Neugriechen zu faulen und bestechlichen Zeitgenossen, die mit den alten Hellenen nichts mehr gemein hätten.

Natürlich gibt es auch Sympathien, die beispielsweise durch die Romanfigur Alexis Sorbas von Nikos Kazantzakis oder durch die Sängerin Nana Mouskouri mit ihren „Weißen Rosen aus Athen“ entstanden sind. Allerdings existiert bis heute eben auch ein negatives Bild vom typischen Griechen, welches seither in unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert ist und durch die gegenwärtige Finanzkrise, angefacht durch die Presse, wieder aktualisiert wird. Die Wirkung bleibt nicht aus. Wie Spiegel Online berichtete, ergab bereits 2011 eine Forsa-Umfrage zur Finanzkrise, dass 80 Prozent der Deutschen den Griechen keine finanzielle Unterstützung mehr gewähren würden.

Dieses Beispiel zeigt, welche Relevanz unsere „Bilder in den Köpfen“ haben. Sie beeinflussen unsere Einschätzung, ob wir die jeweils andere Nation als vertrauenswürdigen Kooperationspartner wahrnehmen oder nicht. Sie bestärken oder dämpfen unsere Bereitschaft zur Solidarität mit ihr. Die Wirtschaftswissenschaftler haben die Bedeutung solcher Nationen­images längst erkannt und untersuchen etwa, wie sie sich auf den Absatz von nationalen Produkten und Dienstleistungen auswirken. Die Sozialwissenschaften tun sich hingegen schwerer, Forscher müssen fürchten, ideologischen Lagern zugeordnet zu werden, wenn sie sich mit Images beschäftigen, ohne sie dabei gleichzeitig zu verteufeln. Denn vergangene Versuche, „objektive“ Instrumente des Kulturvergleichs zu entwickeln, entpuppten sich allesamt als ethnozentristisch, das heißt die Kriterien, anhand derer „verglichen“ wurde, waren stets solche, die vor allem in der persönlichen Kultur der Forscher als bedeutend galten.

Die Beschäftigung mit Nationenimages bekam dadurch den Ruf ideologischer Verbrämtheit und verschwand in der Vorurteilsforschung. Heute steht die Beschäftigung mit diesem Themenbereich stets unter dem impliziten Druck, Nationenimages als Vorurteile zu bekämpfen, und Forscher, die dies nicht tun, riskieren, als ideologisch zu gelten. Dabei ist die Erforschung nationaler Bilder dringend notwendig. Und ihre Bedeutung wächst mit der steigenden Anzahl an interkulturellen beziehungsweise internationalen Kontakten im Zuge der Globalisierung. Politische Eliten, wirtschaftliche Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen müssen immer häufiger über die eigene Nationengrenze hinaus agieren. Technische Entwicklungen und verbilligte Reisemöglichkeiten machen außerdem für viele Menschen das Reisen in andere Länder erschwinglich.

Bei all diesen Begegnungen spielt die Wahrnehmung des anderen eine wichtige Rolle. Im Zentrum steht dabei die Kultur. Unweigerlich vergleicht man sich auch miteinander, was Sinn macht, denn sobald man miteinander in Kontakt kommt, geht es immer auch darum, die Mentalität und das Verhalten des anderen einzuschätzen. Einmal, um keine bösen Überraschungen zu erleben, aber auch, um sich selbst „richtig“ verhalten zu können. Machen wir uns ein „falsches“ Bild vom anderen und hegen falsche Erwartungen, kommt es, wie im griechischen Fall, zu Enttäuschungen und schlimmstenfalls zu Konflikten. Dies gilt besonders dann, wenn sensible Aspekte, wie zentrale Wertvorstellungen, verletzt werden. Aus diesem Grund existiert heute eine Vielfalt an Ratgebern und Kursangeboten zum Erlernen „interkultureller Kompetenzen“.

Sobald also eine fremde Kultur am Horizont erscheint, wird sie unvermeidlich zum Gegenstand von Berichten, Erzählungen, Gesprächen und Deutungen. Dabei wird sie zur eigenen Kultur ins Verhältnis gesetzt, womit meist auch Meinungen und Urteile verbunden sind. Urteile über andere Nationen basieren jedoch selten auf persönlich gewonnenen Überzeugungen. Wie im Fall der Griechen handelt es sich typischerweise vielmehr um sozial abgeleitete Urteile aus dem Wissen des kollektiven Gedächtnisses. Dieses kollektive Gedächtnis ist nichts anderes als das allgemein geteilte Wissen der eigenen Nation, welches via Familie, Freundeskreis und Arbeitszusammenhang von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das bedeutet nicht, dass alle gesammelten Informationen und Erfahrungen von fremden Nationen automatisch ins kollektive Gedächtnis eingehen. Wenn aber gleichartige Erfahrungen mit Vertretern eines fremden Volkes immer wieder berichtet werden oder wenn eine einzige Erfahrung als Signal für bestimmte (Charakter-)Eigenschaften gelesen wird, dann haben überlieferte Geschichten, Dokumente, Bilder, Aufzeichnungen, Sinnsprüche, Ansichten, Verhaltensweisen und andere Informationen gute Chancen, als typisch für dieses Volk in den relativ stabilen Wissensvorrat der eigenen nationalen Wir-Gruppe einzufließen. Dabei erfolgt die Informationsbeschaffung nicht unbedingt zufällig. Um an Informationen über andere Völker zu kommen, werden häufig sogar einige Anstrengungen (Erkundungen, Nachforschungen bis hin zur Spionage) unternommen.

Dabei muss man zwischen dem Nationenbild und dem Nationen?image unterscheiden. Das Bild einer Nation ist emotional wenig aufgeladen, es besteht aus einem Konglomerat an Vorstellungen über typische Eigenschaften der Mitglieder einer bestimmten Nation. Je nach Häufigkeit der Kontakte und der Masse an gesammelten Informationen kann das Nationenbild sehr komplex ausfallen. „Bilder“ sind demnach vergleichsweise neutral, heterogen und facettenreich. „Images“ hingegen sind weit weniger komplex, dafür jedoch mit eindeutigen Urteilen und Bewertungen verknüpft. Ein Nationen­image ist ebenfalls das Ergebnis von Informationen, Erfahrungen, Interpretationen und Meinungen, doch rücken die einzelnen Komponenten vor dem emotionalen Pauschalurteil in den Hintergrund. Images sind daher zwar weniger vielschichtig, in ihrer Wirkung als Orientierungs- und Entscheidungshilfe jedoch deutlich effektiver.

Die Genese eines Nationenbildes beziehungsweise -images ist ein komplexer Prozess, an welchem nicht nur die gesellschaftliche Elite, sondern auch die breite Bevölkerung beteiligt ist. Wenn auch in der Masse vergleichsweise gering, so dürften persönliche Erfahrungen in ihrer Wirkung den größten Einfluss auf das Bild beziehungsweise Image einer Nation haben. Unmittelbare Erlebnisse sprechen die emotionale Ebene am intensivsten an und können bereits gebildete Urteile „korrigieren“. So haben Touristen und Geschäftsreisende die Möglichkeit, andere Länder und deren Bewohner „aus erster Hand“ kennenzulernen. Eine andere, ebenfalls direkt erfahrbare Wahrnehmung von Personen anderer Völker findet im halb öffentlichen Raum beispielsweise im Rahmen internationaler Sportereignisse oder kultureller Zusammenkünfte (gemeinsame Konzerte, Ausstellungen) statt. Solche Veranstaltungen wirken vor allem indirekt, durch anschließend berichtete Erfahrungen. Im Arbeits- und Wirtschaftsbereich spielen Investoren, inter- und transnational agierende Konzerne sowie die Art der Rekrutierung ausländischer Talente eine Rolle.

Hauptsächlich medial vermittelt werden hingegen prominente Sportler, Kulturschaffende sowie andere nationale Stars und Sternchen wahrgenommen. So wird laut dem Kommunikationswissenschaftler Günter Bentele das Image der Deutschen von Menschen wie Michael Schuhmacher, Michael Ballack oder Heidi Klum für breite Gesellschaftsschichten deutlich geprägt. Laut Bentele prägen auch der Konsum von Gütern und Dienstleistungen (die finnische Mode- und Haushaltswarenmarke Marimekko, Lufthansa oder die französische Eisenbahngesellschaft SNCF) das Nationenimage. Zwar ist durchaus vorstellbar, dass Kulturexporte, die für bestimmte Eigenschaften stehen, die Zuschreibung von Charaktereigenschaften beeinflussen. So ließe sich aus der „Wertarbeit“ bekannter Unternehmen (Bosch, Breitling, Daimler) auf dahinterstehende, zur Herstellung notwendige Charaktereigenschaften schließen (zuverlässig, arbeitsam, verantwortungsbewusst). Plausibel ist auch, dass als außergewöhnlich geltende Errungenschaften einer bestimmten Kultur (französische Küche, russische Dichtung, italienische Mode) auf typische Eigenschaften verweisen (raffiniert, dramatisch, stilbewusst). Bislang konnte die Richtung des Einflusses jedoch nicht eindeutig geklärt werden: Schaffen die Produkte ein bestimmtes Länderimage oder ist es umgekehrt und in Wirklichkeit profitieren die Produkte vom guten Image des Landes?

Überhaupt ist es nicht etwa so, dass Informationen ungefiltert zu Nationenimages und im Anschluss zu Einstellungen gegenüber den Menschen anderer Nationen führen. Aus den Sozialwissenschaften wissen wir, dass die Bedeutung von Informationen, Wahrnehmungen und Erfahrungen vielmehr erst im kommunikativen Austausch mit den persönlichen Bezugspersonen und -gruppen „erarbeitet“ wird. Als relevant oder als vielsagend betrachtete Erlebnisse werden in der Familie oder mit Freunden beziehungsweise Kollegen erörtert und es wird eine „gemeinsame Wahrheit“ gesucht. Bezogen auf andere Nationen ergeben sich so Ansichten und Überzeugungen über bestimmte Kerneigenschaften des typischen Vertreters der betreffenden Nation. Manche dieser Vorstellungen verbreiten sich und finden ihren Weg ins kollektive Gedächtnis. Aus ihnen bildet sich mit der Zeit das Nationenbild, welches sich wiederum im Nationenimage verdichtet. Dass es sich dabei nur schwerlich um eine „objektive“ Abbildung der Realität handelt, liegt auf der Hand. Vielmehr handelt es sich um vereinfachende Schematisierungen der viel komplexeren Wirklichkeit, bei welcher bestimmte Ausschnitte der Realität überbetont und andere ignoriert werden. Solche Verzerrungen hängen damit zusammen, dass wir andere Nationen immer auch vor dem Hintergrund unserer eigenen kulturellen Prägung wahrnehmen. Was der eine beklagenswert findet, empfindet der andere als sympathisch. Und: Je weniger wir faktisch wissen, des­to mehr pauschalisieren wir. Auf diese Weise können – wie im Fall Griechenlands – wenige Informationen das Image völlig dominieren.

Nationenbilder und -images bilden also die Realität nicht fotografisch ab, sondern basieren auf Interpretationen von Erfahrungen beziehungsweise Schlüsselreizen und daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Dies bedeutet jedoch nicht das völlige Entfernen vom bewerteten Gegenstand. Laut dem Imageexperten Simon Anholt ist es neben der Vergangenheit vor allem das gegenwärtige Verhalten, welches die Reputation eines Landes und seiner Menschen prägt. Demnach werden Nationen nicht aufgrund ihrer Pressearbeit oder Propaganda, sondern aufgrund ihres Verhaltens beurteilt. Eine erwünschte nationale Reputation bedarf daher einer Verankerung in der Realität. Das bedeutet, dass das Image einer Nation nur verbessert werden kann, indem das tatsächliche (politische) Verhalten glaubhaft verändert wird. Eine authentisch wirkende Handlung kann wirkungsvoller sein als alle Absichtserklärungen. So steht der Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau symbolisch für die politische Richtungsänderung in der deutschen Ostpolitik. Für die Griechen bedeutet dies, dass sie nur durch die überzeugende Gestaltung ihrer Politik ihr Image wirklich verbessern können. Eine konsequente Sparpolitik und der glaubhaft transportierte Willen, die Situation in den Griff zu bekommen, wird mittelfristig dazu führen, dass das bisherige Nationenbild erweitert und das Image „korrigiert“ wird. Denn in Europa existiert aller Vorurteile zum Trotz durchaus ein begründetes Interesse daran, möglichst realistische gegenseitige Nationenbilder zu gewinnen, und nicht zuletzt die Finanzkrise macht deutlich, wieso dies so ist. Die Europäer sind wirtschaftlich und politisch aufeinander angewiesen; geschaffene, gegenseitige Abhängigkeiten lassen sich nicht eben mal wieder rückgängig machen. Aus diesem Grund sind „realitätsnahe“ Einschätzungen von den europäischen Nachbarn und Vertragspartnern für alle Beteiligten wertvoll. Eine Reputation, die auf Verhalten basiert, hat in Europa allerdings auch eine reelle Chance. Die vielfältigen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, zahllose Kommunikationskanäle und die demokratische Kultur der Europäer machen Manipulationen zu schwierigen Unterfangen und erhöhen stattdessen die Chance auf eine ausgewogene Berichterstattung über die europäischen Nachbarn.