„Ich glaube nichts sofort“

Wie man als Diplomat lernt, die Dinge von zwei Seiten zu betrachten - und sich an die Deutschen und klassische Musik gewöhnt

Als Kind war Deutschland für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte, es existierte einfach nicht. Meine Mutter, die dort geboren ist und ihre gesamte Familie im Holocaust verlor, hat diese Haltung weder bestärkt noch etwas dagegen unternommen. In den ersten Pässen des neuen Staates Israel stand noch der Vermerk: Dieser Pass ist für alle Länder der Welt gültig, mit Ausnahme Deutschlands. Wir lebten damals mit allen unseren Nachbarn im Kriegszustand. Trotzdem stand dort nicht "mit Ausnahme Syriens" oder "mit Ausnahme des Iraks", sondern "mit Ausnahme Deutschlands". Dabei führten wir ja gar keinen Krieg gegen Deutschland und es war auch nicht mehr Nazideutschland, sondern die Bundesrepublik.

Das passte zur Mentalität meiner Generation. Wir wollten nie wieder irgendeinen Kontakt mit Deutschland, weder mit dem Land noch mit seinen Menschen. Zwar freundete ich mich auf meiner ersten längeren diplomatischen Station an der Elfenbeinküste mit Claus von Amsberg an, dem späteren Ehemann der holländischen Königin Beatrix, aber ich habe ihn immer als Ausnahme betrachtet. Die Mehrheit der Deutschen, glaubte ich, würde die Nazivergangenheit des Landes komplett verdrängen. Und mit Menschen, die ihre wahre Identität verschleiern, konnte man wohl kaum einen echten Dialog führen. Über die Jahre änderte sich jedoch mein Deutschlandbild.

Am prägendsten dafür war meine Zeit als Botschafter in Bonn. Als ich 1993 nach Deutschland kam, haben wir unseren damals vierjährigen Sohn in einen deutschen Kindergarten geschickt, danach in die deutsche Schule. Dort war er das einzige jüdische Kind. Seine Freunde sind oft nach dem Unterricht zu uns gekommen, und wenn die Eltern sie am Abend abholten, haben meine Frau und ich uns mit ihnen unterhalten. Es waren einfache Leute, die überhaupt nichts mit dem Ausland zu tun hatten. Ich habe gemerkt, dass sie keine Ahnung von der jüdischen Realität und Geschichte hatten. Aber sie waren sehr neugierig und überhaupt nicht feindselig. Mit wurde klar: Wenn Menschen sich wirklich kennenlernen, haben sie weniger Ängste und Vorurteile.

1956 wurde ich als Soldat während der Suezkrise verwundet. Nach einer langen und schmerzhaften Fahrt durch die Wüste kam ich mit einem offenen Beinbruch in ein Krankenhaus. Dort musste ich etwa ein halbes Jahr bleiben, hatte also viel Zeit nachzudenken und mit anderen verletzten Soldaten über den Krieg zu sprechen. Bis zu dieser Zeit war ich ein großer Patriot gewesen. Die israelische Propaganda war für mich die reine Wahrheit und unsere Feinde hatten in allem unrecht. Nun begann ich, die Dinge differenzierter zu sehen.

Heute habe ich ein Prinzip: Ich glaube nichts sofort. Das ist für mich wie eine zweite Natur. Ich muss darüber nachdenken, muss nachforschen, eine andere Meinung hören. Außerdem habe ich in der Klinik gelernt, mich an klassische Musik zu gewöhnen. Früher hatte ich kein Verständnis dafür. Dann brachte mir jemand aus der Krankenhaus-Mediathek Beethovens fünfte Symphonie mit und sagte, ich müsse sie so oft hören, bis ich sie fast auswendig könne. Danach hörte ich die anderen Symphonien von Beethoven, gefolgt von Stücken anderer Komponisten. So wuchs nach und nach mein Verständnis für diese Art von Musik. Heute bin ich begeisterter Klassikfan.

Protokolliert von Stephanie Kirchner