Literatur | Südkorea

Südkoreas Mittelerde

Lee Young-dos „Die Legende vom Tränenvogel“ verkaufte sich millionenfach in Südkorea. Nun ist das vierteilige Epos auch auf Deutsch erschienen
Collage der Buchcover von die Legende vom Tränenvogel

Die Legende vom Tränenvogel verkauft sich in Südkorea besser als der Herr der Ringe

Ein Mensch, ein Dämon und ein riesiges Wesen mit dem Körper eines Mannes und einem Hahnenkopf treffen sich „in der letzten Kneipe der Welt“– in einer Grenzwüste, die die Welt in Norden und Süden teilt. Von dort ziehen sie aus, um das vierte Mitglied ihrer Kompanie zu finden: einen Angehörigen der Naga, des Volkes, das im mit dem Norden verfeindeten Süden lebt und das Licht ins Dunkel eines Komplotts gegen den Norden bringen soll. So beginnt der erste Band von „Die Legende vom Tränenvogel“, des vierteiligen Epos von Lee Young-do, das schon vor zwanzig Jahren in Südkorea erschienen ist und sich dort inzwischen millionenfach verkauft hat. 

Im Jahr 2023 bezahlte ein britischer Verlag für die europäische Erstveröffentlichung die höchste Summe, die je für die Übersetzung eines koreanischen Buches geboten wurde. Seit Ende 2024 sind endlich auch alle vier Bände auf Deutsch erhältlich. 

Lee entführt seine Leserinnen und Leser in eine fiktive Welt, wobei er Elemente aus der südkoreanischen Mythologie und Geschichte mit einer klassischen Heldenreise verbindet. Die Bücher sind keineswegs für Kinder geeignet, es ist eine extrem brutale Geschichte, die auf ziemlich plastische Weise von Gewalt, Inzest und Folter handelt. Die Wüste markiert, vom Süden wie vom Norden aus betrachtet, das Ende der Welt. Damit erinnert sie, so Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer, die das Werk sehr gelungen ins Deutsche übersetzt haben, „an die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea“. 

Den Süden stellt der Autor jedoch nicht als ein moralisch überlegenes Reich dar, sondern eher wie eine Art Negativ des realen Südkoreas: In Lees Geschichte gibt es im Süden konfuzianisch und patriarchalisch geprägte gesellschaftliche Hierarchien, die Machtverhältnisse sind aber umgekehrt: Hier regieren Frauen über Männer und unterdrücken diese. In Phasen, in denen sie sich „häuten“, müssen sich die Männer isolieren, so wie dies ganz real immer noch für viele Frauen in bestimmten Kulturen gilt, wenn sie ihre Menstruation haben. 

Die Machtverhält­nisse sind umgekehrt: Hier regieren Frauen über Männer und unterdrücken diese

Nach eigener Aussage schätzt Lee neben dem „Nibelungenlied“ und Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ vor allem auch „Der Herr der Ringe“. Tatsächlich bietet sich der Vergleich zwischen Tolkiens Werk und jenem von Lee an. Manche sehen den Autor, der 1972 in Busan geboren wurde, sogar als einen südkoreanischen Tolkien.

Ähnlich wie der Brite, der Professor für englische Sprache und Literatur war und ein Experte für germanische und nordische Mythologie, vertiefte sich Lee Young-do, der koreanische Literatur studiert hat, in Volksmythen und die Philosophie seines Landes.

So begegnet man bei ihm freundlichen Wesen aus der indigenen schamanischen Religion des Muismus, proto- beziehungsweise urkoreanischer Poesie, uralten Bräuchen wie dem Ssireum-Ringkampf und dem 2000 Jahre alten Spiel Yutnori, ursprünglich ein religiöses Ritual, das die Yin-Yang-Prinzipien und eine Abkehr vom alltäglichen Leben symbolisierte. Eine große Inspiration für seine unglaublich akribisch, aber mitreißend erzählte Geschichte waren für Lee auch die „Samguk Yusa“ oder „Legenden der drei Königreiche“ aus dem 13. Jahrhundert, eine Sammlung von Geschichten und Legenden des mittelalterlichen Südkorea, die von buddhistischen Mönchen zusammengetragen wurden. 

Lees Werk gilt als Brücke zwischen koreanischer und europäischer Mythologie und Fantasy. Der Autor verzichtet dabei aber auf einige typisch westliche Fantastikelemente. Statt Elfen und Trollen begegnet man Schlangenwesen und Drachen, die als Pflanzen geboren werden. Buddhistische Mönche sind Forscher, die Himmelsfische erklimmen, inkarnierte Götter unterhalten sich mit Sterblichen über den Sinn des Krieges und das ideale Herrschertum. 

Nur gut oder nur böse ist keine der Figuren in Lees komplexer Welt. „Die Legende vom Tränenvogel“ ist ein blutiges, aber stellenweise auch hochkomisches und zum Nachdenken anregendes Epos, das schnell süchtig macht.

Die vier Bände der „Tränenvogel“-Serie –„Das Blut der Herzlosen“, „Der träumende Krieger“, „Der Feuergeist“ und „Die Suche nach dem König“ – sind 2024 bei Penguin in deutscher Übersetzung erschienen.

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