Florenz versus Kuala Lumpur
Der Autor Tash Aw fühlt sich manchmal "lost in translation"
Foto: IMAGO/Newscom
Letztes Jahr war ich im Rahmen eines Autorenstipendiums in Florenz, als ich für eine wichtige familiäre Angelegenheit zurück nach Malaysia gerufen wurde. Ich bestellte mir ein Taxi für den kommenden Morgen, das mich in der Früh bei meiner Wohnung nahe der Franziskanerkirche Santa Croce abholen und zum Flughafen bringen sollte. Von dort würde ich über Rom nach Singapur und schließlich nach Kuala Lumpur fliegen.
Kurz nach Sonnenaufgang waren die Straßen der Stadt in ein goldenes Licht gehüllt, das die Details an den Fassaden der alten Florentiner Häuser hervorhob: die kunstvollen Steinverzierungen und -statuen, die feinen Holzdekorationen. Natürlich waren diese Häuser im Laufe der Jahre immer wieder restauriert worden, aber so geschickt, dass der Eindruck entstand, nichts habe sich verändert und nichts werde sich jemals ändern; Wandel war in dieser Stadt ganz offensichtlich nicht erwünscht. Warum auch, wenn die Perfektion bereits erreicht ist – architektonisch, aber auch in einem essenzielleren Sinn: dem tief verwurzelten Gefühl, dass eine bestimmte Lebensweise mit all ihren Manifestationen von Schönheit und Ordnung hier bereits vor Jahrhunderten ihren Höhepunkt erreicht hat.
Ich wohnte noch nicht lange in Italien, und doch hatte ich mich längst von der Subtilität seiner alten europäischen Eleganz verführen lassen. Um das entsprechende Denken zu verstehen, hatte ich viele Abende damit verbracht, mir die Filme italienischer Regisseure des Neorealismus anzuschauen: Visconti, Pasolini, Antonioni und andere. Mit der Zeit meinte ich zu begreifen, dass sich in ihnen ein zunehmendes Unbehagen am möglicherweise endgültigen Verfall einer Lebensweise ausdrückte. Fast alle handelten von der Entfremdung des Menschen und seiner zunehmenden Abkopplung von einer jahrhundertealten Welt, verursacht durch die rasanten Veränderungen in Gesellschaft und Technologie, insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
„Wie lernt man seine eigene Herkunft und Identität zu verhandeln?“
Wie wäre es mir wohl ergangen, wenn ich hier in Florenz aufgewachsen wäre, an einem Ort, der sich dieser Entwicklung so vehement widersetzt und einen Zustand permanenter Ewigkeit zu konservieren versucht? Wie sehr hätte die in seinen Straßen und Gebäuden versteinerte Zeit um mich herum meine Fähigkeit beeinflusst, historische Veränderung zu begreifen und anzunehmen, mein Verständnis davon, was Geschichte ist und wie sie uns prägt? Wie findet man ein Verhältnis zu seiner eigenen Vergangenheit, wie lernt man seine eigene Herkunft und Identität zu verhandeln, wenn die unveränderlichen Ausdrucksformen einer Kultur einen immerzu und allgegenwärtig umzingeln? Wie sehr hängt das Potenzial von Menschen, sich selbst als Individuen wahrzunehmen, davon ab, was ihre jeweiligen Gesellschaften einst gewesen sind und was sie als Erbe hinterlassen haben?
Als ich knapp einen Tag später in Kuala Lumpur landete, beschäftigten mich diese Fragen noch immer. Der Schock, den es bedeutet, von Westeuropa nach Asien zu reisen – fast unabhängig davon, in welchen Teil des Kontinents –, war mir nicht fremd. Doch dieser spezifische Wechsel zwischen der uralten Stadt Florenz, die sich bewusst wie ein Museum inszeniert, und einer Metropole wie Kuala Lumpur, deren Modus Operandi die fortlaufende Zerstörung ihrer eigenen Vergangenheit ist, war gravierend. Wird die eine Stadt allein von ihrer Historie getragen, kämpft die andere permanent gegen die ihre an; die eine verherrlicht ihr Erbe, die andere revoltiert dagegen.
Kuala Lumpur wurde größtenteils in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von chinesischen Kulis errichtet, die dort in den Zinnminen arbeiteten. Heute gibt sich die Stadt als moderne, multikulturelle Metropole in einem stark muslimisch geprägten Land. Ihre bewusste und radikale Neugestaltung begann in den frühen 1980er-Jahren, wobei Nationalismus ein wichtiger Faktor war: Viele Straßen, die vorher die Namen britischer Kolonialbeamter trugen, wurden nach einheimischen Persönlichkeiten umbenannt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung expandierte die Stadt in ihren Ausmaßen derart drastisch, dass eine komplette Umgestaltung des Zentrums notwendig wurde, die schließlich in der gigantomanischen Neubebauung der zentralen Pferderennbahn gipfelte. Auf dem Areal, auf dem auch alte Bäume und Kolonialvillen standen, wurden in den 1990er-Jahren die ikonischen Petronas Twin Towers errichtet, die noch heute die Skyline der Stadt dominieren.
„Man wollte die koloniale Vergangenheit bewusst auslöschen“
Viele schöne Kolonialbauten, darunter das Bok House (in dem es ein legendär schlechtes französisches Restaurant namens »Le Coq d’Or« gab), wurden, auch wenn sich manche deshalb über eine Geschichtsvergessenheit empörten, einfach abgerissen. Offiziell wurden wirtschaftliche Gründe angeführt: Die Villa blockierte ein erstklassiges Grundstück, die Stadt wuchs, es ergab keinen Sinn, ein heruntergekommenes Bauwerk zu erhalten, das keinen Zweck mehr erfüllte. Doch die eigentliche Motivation war nicht schwer zu erkennen: die koloniale Vergangenheit bewusst auszulöschen und durch Strukturen zu ersetzen, die widerspiegeln sollen, was unsere Gesellschaft heute ausmacht – oder besser gesagt, die ein Bildnis davon sein sollen, wie wir im Hier und Jetzt leben wollen. Oder vielleicht sogar eines davon, mit dem wir andere glauben machen wollen, dass wir nun auf eine bestimmte Art und Weise leben.
Als ich aus Florenz in Kuala Lumpur ankam, nahm ich ein Taxi, um zum Wohnblock meiner Eltern zu fahren. Der Fahrer merkte an, wie gut instand gehalten das Gebäude sei, obwohl es schon „alt“ war. Ältere Gebäude seien besser belüftet, sagte er, auch wenn sie nicht über Annehmlichkeiten wie Schwimmbäder und Fitnessstudios verfügten. Das Apartmenthaus, in dem meine Eltern leben, war fünfundzwanzig Jahre alt, jenes, in dem ich in Florenz gewohnt hatte, fast vierhundert.
Während ich auf dem Weg zu meinen Eltern mit dem Taxi durch das Viertel meiner Kindheit gefahren war, hatte ich die Straßenführung nur noch vage rekonstruieren können. Nur wenige markante Gebäude und Plätze existierten noch – etwa das Haus mit der bizarr grün gekachelten Veranda, einst eines der elegantesten Häuser, jetzt überragt von umliegenden Hochhäusern. Wo sich früher ein zentraler Parkplatz befunden hatte, der sich abends in einen belebten Markt verwandelte, stand nun ein Einkaufszentrum, dessen Dimensionen und Zufahrtsstraßen das gesamte Viertel in seiner Erscheinung verzerrten und mit ihr meine Erinnerung an mein Leben dort.
„Jedes Land in Asien hat seine eigenen Tabuthemen, doch sie alle haben in irgendeiner Weise mit der jeweiligen Kolonialgeschichte zu tun“
Unsere Beziehung zur Vergangenheit ist stark an physische Orte gebunden. Angesichts dieser disruptiven Veränderungen fiel es mir schwer, mich daran zu erinnern, wo einst mein Platz in diesem Viertel gewesen war, was für ein Leben ich hier gelebt hatte, wer ich gewesen war. Ich versuchte, es als einen völlig neuen Ort zu begreifen, den es zu bestaunen und zu erkunden galt. Was vermutlich ohnehin in der Absicht derer lag, die für diese Transformation verantwortlich waren.
Meine Eltern sind alt und waren während meines Besuchs in schlechter Verfassung. Sie gehören zu der Generation, die direkt nach der Unabhängigkeit erwachsen wurde – und die normalerweise nicht über ihre Vergangenheit redet. Aber nun waren sie erschöpft und etwas wehmütig. Sie erzählten mir von ihrer schweren Kindheit, wie sie unter Rassismus, Diskriminierung und Armut gelitten hatten. Andere Themen blieben jedoch ausgespart, zum Beispiel die Frage, ob sie in den 1950er- und 60er-Jahren mit linken Ideen sympathisiert hatten. Das Schweigen gilt für fast alle Menschen dieser Generation, die ich kenne.
Jedes Land in Asien hat seine eigenen Tabuthemen, doch sie alle haben in irgendeiner Weise mit der jeweiligen Geschichte zu tun, die fast immer eine koloniale ist. Es sind komplexe von Generation zu Generation überlieferte Traumata. Sie anzusprechen oder auch nur danach zu fragen, stört ganz offensichtlich die ständige und ausschließliche Hinwendung zur Zukunft, die in Asien in den letzten drei oder vier Jahrzehnten zu einem Dogma geworden ist. Wenn ich doch einmal nachhakte, fühlte ich mich stets wie ein Eindringling, ein Fremder ohne Aufenthaltsgenehmigung. Denn wer nach dem Gestern fragt, der zieht das Mantra in Zweifel, wonach das Beste des Lebens noch vor einem liegt.
„Sollten wir unserer Traumata gedenken oder sie radikal verdrängen?“
Ich verstand, dass dies die Antithese zum europäischen Denken war. Dort glaubt man fest daran, dass die permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insbesondere mit ihren vermeintlich glorreichsten Momenten, Aufschluss darüber geben könne, wer man gegenwärtig ist. Es sind zwei extreme Diskurse über Identität, zwischen denen scheinbar keine Vermittlung möglich ist.
Ich fragte mich, was wohl besser ist: Sollten wir unserer Traumata gedenken oder sie radikal verdrängen? Macht es Sinn, unser Verständnis für unser früheres Selbst stetig zu verfeinern, oder sollen wir uns lieber komplett neu erfinden? Das jeweilige Denken hat, wie ich meine, denselben Ursprung: tiefste Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Und ich verstand trotz allen Nachdenkens, dass mir völlig unklar war, wie die jeweiligen Wunden der Geschichte, ob nun in West oder Ost, jemals würden heilen können.
Aus dem Englischen von Ruben Donsbach