Zensur | Algerien

„Die Welt muss wissen, dass die Freiheit auf dem Spiel steht“

Der Schriftsteller Kamel Daoud, der für seinen Roman „Huris“ 2024 den Prix Goncourt erhielt, über Zensur und das Regime in Algerien
Blick auf den Hafen von Algier als schwarz-weiß Fotografie

Der Hafen von Algier

Das Interview führte Stephanie von Hayek

Herr Daoud, wann waren Sie zum letzten Mal in Algerien?

Das ist lange her. Seit dem Sommer 2023 lebe ich in Frankreich. Ich habe meine Heimat fluchtartig, nur mit einem Koffer, verlassen.

Im Herbst 2024 wurde Ihr Schriftstellerkollege Boualem Sansal bei seiner Ankunft am Flughafen in Algier verhaftet. Nun ist er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Er ist 80 Jahre alt und schwer krank.

Offiziell ist er wegen eines Interviews verhaftet worden. Aber eigentlich will das Regime seine eigene Position stärken: Die Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen war gering. Zuspruch erhält man entweder über die Religion oder über einen antifranzösischen Diskurs. Verhaftet man einen frankophonen algerischen Schriftsteller, der mehr individuelle Freiheit fordert, ist die Botschaft: Wir haben einen Verräter festgenommen. Damit steht man automatisch auf der richtigen Seite. Je mehr die Franzosen auf die Freilassung Boualems drängen, desto weniger ist das Regime bereit dazu. Die Regierung behauptet, Frankreich wolle das Land erneut kolonisieren. Das macht sie populär.

„Es gibt weder eine freie Presse, noch können ausländische Medien aus Algerien berichten“

Dazu kommt, dass man uns Schriftstellern nicht verzeiht, dass wir nach den Ereignissen vom 7. Oktober für Israel Stellung bezogen haben. Ein weiterer Grund, uns zu verfolgen. In Europa weiß niemand, dass in Algerien die Islamisten erst die Justiz übernommen haben, dann die Schulen, die Medien, und nun wollen sie auch noch die Kultur kontrollieren. Steckt man Boualem ins Gefängnis, ist die Botschaft an Frankreich: Wir können ihn festnehmen und ihr könnt nichts dagegen tun. Das gilt für alle, auch zukünftige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Die deutsche Diplomatie müsste deshalb ihren Einfluss geltend machen.

Wie ist die aktuelle Situation in Algerien?

Es herrscht ein Klima der Angst. Als ich vor anderthalb Jahren in Paris ankam, konnte das niemand glauben. Es gibt in Algerien weder eine freie Presse, noch können ausländische Medien von dort berichten – Journalisten erhalten keine Visa. Dazu kommt, dass man als islamophob gilt, wenn man sagt, dass alles in Algerien schlimmer wird. Einige linke Medien wollen nicht wirklich sehen, was dort passiert. Es herrscht eine Art künstliches Schweigen über dieses Land. Jetzt aber, mit Boualems Festnahme, haben viele es verstanden.

„Islamisten glauben an Jungfrauen im Paradies. Sie töten hier Frauen, um dort mit ihnen zu leben“

Der Bürgerkrieg brach 1991 aus, nachdem sich bei den Wahlen ein Sieg der Front Islamique du Salut abgezeichnet hatte und die Armee die Wahlen annullierte. Sie putschte sich an die Macht, mit Billigung Frankreichs. Wie sehen Sie im Rückblick die Annullierung der Wahlen?

Es gibt keine gute Antwort auf diese Frage. Ist es eine gute Idee, die Demokratie mit undemokratischen Mitteln zu retten? Oder muss man die Demokratie machen lassen? Starke Staaten können damit umgehen, wie etwa Marokko oder Jordanien. Sie haben die Islamisten an die Macht kommen lassen, aber da sie sich nicht bewähren konnten, blieb ihr Einfluss gering. Was Algerien betrifft, habe ich die Annullierung der Wahlen unterstützt, weil ich die Islamisten kannte. In dem Moment, wo sie an der Macht sind, ist alles Gottes Wille – und gegen den kann man nicht vorgehen.

Ihr Roman „Houris“ wurde letztes Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Als Thema haben Sie den algerischen Bürgerkrieg gewählt. Warum?

Weil es ein Krieg ist, den ich erlebt habe, der mir und meiner Umgebung viel Leid zugefügt hat. Ein Krieg, über den zu sprechen in Algerien per Gesetz verboten ist! Das macht einen machtlos. Ich habe in einem Land gelebt, in dem man mir nur von dem Kolonialkrieg erzählte, der 1962 mit der Unabhängigkeit endete. Ich wollte, dass man über beide Kriege spricht. Die Feinde der Demokratie und der Frauen denken totalitär und gewinnen weltweit an Einfluss. Ich möchte, dass die Menschen wissen, dass wir das erste Land waren, das dafür den Preis zahlen musste. Die Welt muss wissen, dass die Freiheit auf dem Spiel steht, die Rechte der Frauen und das Glück. Mein Roman ist kein Roman über den Krieg, sondern über das Recht auf Glück.

„Houri“ nennt die Protagonistin Aube ihr ungeborenes Kind. Im Islam sind die „houris“, auf Deutsch „Huris“, die Jungfrauen, die Helden im Himmel erwarten. Können Sie dieses Phantasma erklären?

Wenn man ein guter Gläubiger ist, gelangt man ins Paradies, wo die Jungfrauen auf einen warten, Frauen als Sexsklavinnen. Eine alte Mythologie. Nun aber sprengen sich Menschen in die Luft, weil sie daran glauben. Für mich ist das pathologisch: Man tötet hier Frauen, um dann im Jenseits mit ihnen zu leben. Wäre man fähig zu lieben, liebte man die Lebenden, nicht die Toten.

Das Buch haben Sie Ihrer Mutter Yamina gewidmet: „A ma mère, ma langue secrète.“ Was ist das für eine „heimliche Sprache“, die Sie da bewegt?

Das Algerische. Niemand in der arabischen Welt spricht „Arabisch“. Es wäre, als würde man sagen, die Europäer sprechen Latein. In meinem Land haben wir das Berberische und das Algerische. Ich kann einen Marokkaner verstehen, eine Tunesierin, aber niemanden aus Saudi-Arabien. Die heimliche Sprache ist also die wirklich gesprochene Sprache, aber sie ist verboten. Es gibt keine Bücher und Zeitungen auf Algerisch, und es ist eine Sprache, die viel Verachtung erfährt. Bei uns nennen die Konservativen sie die Vulgärsprache.

Macht spielt sich auch in der Sprache und innerhalb ihrer Grenzen ab.

Ja. Predigten sind auf Arabisch oder politische Reden, Werbung hingegen ist auf Algerisch, weil es um Geld geht. Das musikalische Genre, das die Welt erobert hat und das aus Oran, meiner Stadt, stammt, ist der Raï. Er wird auf Algerisch gesungen, deshalb wurde er von den Islamisten bekämpft.

Ihrer Protagonistin Aube wird von Islamisten die Kehle durchgeschnitten, aber sie überlebt. Wir hören ihr zu, wie sie über die von Islamisten verübten ungeheuerlichen Massaker Zeugnis ablegt. Was kommt dabei nicht zur Sprache?

Aube ist eine Frau, die einem Massaker entkommen ist und deren Stimmbänder durchtrennt wurden, die nicht laut sprechen kann. Es geht um einen Krieg, über den man nicht reden darf, und zwar per Gesetz. Weil es ein schamvoller, selbstmörderischer Krieg war, kein nobler, wie der gegen Frankreich. Er ist so schmerzvoll, dass man kaum Worte für ihn findet.

Die Narbe an Aubes Hals ist ein Lächeln, das sich unter ihrem Schal verbirgt, als wäre das „sourire“ wörtlich als „sous-rire“ zu verstehen, als etwas, das darunter liegt, nicht immer zum Vorschein kommt. Was wollten Sie damit zum Ausdruck bringen?

Das ist die ganze Geschichte. Jemand, der es nicht schafft zu sprechen, der aber die Spuren eines Krieges davonträgt. Hätte Aube keine Narbe, könnte man sagen, gut, keiner wird mir glauben, aber sie hat eine, die sie jeden Tag an den Krieg erinnert. Ich wollte meine Schwierigkeit damit zeigen, eine wahre Geschichte zu verschweigen. Man kann es tun, aber sie ist da.

„Literatur erinnert uns daran, dass Menschen anders als wir selbst sein können“

Und warum das Lächeln?

Weil es verschiedene Arten des Lächelns gibt, ein komisches Lächeln, eines, das sich lustig macht, ein Rachelächeln. Lächeln ist mehrdeutig.

Haben Sie durch das Schreiben über die Massaker an der algerischen Zivilbevölkerung etwas von der Fähigkeit des Menschen zur Grausamkeit verstanden?

Ich habe das Vertrauen in die Menschen völlig verloren. Wenn Menschen zu solchen Taten in der Lage sind, dann kann ich es ihnen nicht mehr schenken. Gleichzeitig bin ich Teil dieser Menschheit – wie soll ich mir selbst trauen? Aber ich habe gelernt, dass wir in uns die unglaubliche Fähigkeit besitzen, all das zu überwinden. Der Roman ist für mich eine Rückkehr zum Leben. Die Protagonistin hat die Reise gemacht, die Algerien noch vor sich hat.

Wir beobachten eine gesellschaftliche Regression auch in den westlichen Demokratien. Sexuelle Prüderie, unter der besonders die Frauen leiden, erlebt ein Comeback. Sie sagen, dass eine Gesellschaft auch für Männer nur wirklich frei ist, wenn Frauenrechte akzeptiert werden. Warum zählen Frauen in Algerien nicht?

Man kann die Frage anders stellen: Warum hassen die Islamisten die Frauen so? Dafür gibt es Fährten: Die Frau schenkt das Leben – das ist das größte Rätsel, das existiert. Sie repräsentiert das Begehren, die Sexualität, das Glück. Die Islamisten lieben das Leben nicht. Weil die Frauen das Leben schenken und beschützen, hassen sie sie. Die Liebe bringt uns dazu, uns zu entblößen. Ein radikal Religiöser ist jemand, der sich für Gott hält, er zieht es vor, sich in seinem Glauben einzuschließen, anstatt auf eine Frau zuzugehen, zu akzeptieren, dass man nackt ist.

„Ein Buch ist wie ein Körper, der Leser ist seine Seele“

„Es bedarf vieler Bücher, um frei zu sein“, sagten Sie in einem Interview. Auch, dass Sie selbst sehr religiös waren, aber Bücher Sie befreit haben. Was kann Literatur bewirken?

Literatur erinnert uns daran, dass Menschen anders als wir selbst sein können. Sie erlaubt uns zu reisen, zu lieben, auch wenn wir in einem Zimmer eingesperrt sind. Sie tut, was sie kann. Aber was tun wir für die Literatur? Wir müssen Autorinnen und Autoren beschützen, ihnen helfen, ihre Bücher lesen, sie übersetzen. Ich bin in Frankreich, ich werde verfolgt, Boualem Sansal ist im Gefängnis. Wenn sie Boualem töten, zahlen wir alle den Preis. Glauben Sie, dass ich so viele Schwierigkeiten haben wollte mit dem Schreiben eines Buches? Ich habe es nicht gemacht, weil ich ein Held bin, sondern weil es meinem Leben einen Sinn gibt. Aber ein Buch lebt nicht, solange es nicht gelesen wird. Es ist wie ein Körper, der Leser ist seine Seele. Wenn es keine Seele gibt, gibt es kein Leben.