Apokalyptisches Denken

Der Westen ist vom Ende besessen

Ein Freund, ein Schamane eines indigenen Stammes im Süden Brasiliens, erzählte mir einmal eine schöne Geschichte. „Wenn die weißen Männer kommen, legen wir unseren Federschmuck an, tanzen, trommeln uns auf die Brust und hören uns ihre Erzählungen vom Ende der Welt an. Wir nicken und stimmen zu, aber sobald sie fort sind, ziehen wir unsere Jeans an, trinken Bier und sind uns darüber einig, dass ihre Apokalypse nie apokalyptisch genug ist.“

Für mich klingt das überzeugend. Wenn jemand weiß, wie das Ende der Welt aussieht, sind es doch diese indigenen Gemein- schaften. Sie waren es, die stark dezimiert wurden, ihre Kultur wurde beinahe vernichtet.

Trotzdem scheint man vor allem im Westen vom „Ende“ von diesem und jenem besessen. Tendenziell blockiert uns unsere Vorstellung vom Ende allerdings eher in unserer Vorstellungskraft, als dass sie uns Perspektiven eröffnen würde. Ein zugespitztes Beispiel dafür, wie abstrakt die Überlegungen oft sind und wie wenig sie mit konkreten Änderungen einhergehen, lieferte der US-amerikanische Philosoph und Litera- turkritiker Fredric Jameson mit seinem Bonmot, wonach es leichter sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende unseres Wirtschaftssystems, des Kapitalismus.

Will man sich auf die große Frage einlassen, was zu Ende geht, dann ist es vielleicht eine bestimmte Vorstellung über „den Westen“ und seine Dominanz. Es ist ein Konzept, das nicht gut allein funktioniert. Es braucht immer etwas, von dem es sich abgrenzt: der Westen gegen den Osten, der Norden gegen den Süden.
Um es mit Blick auf einen einflussreichen deutschen Philosophen zu sagen: Vielleicht verabschieden wir uns gerade von Hegels eigenartiger Geschichtsphilosophie, nach der sich die Geschichte wie die Sonne bewegt, die zwar im Osten aufgeht, dann aber über den Westen zieht und dort verharrt. Es scheint, als ob das Licht nur auf den Westen fällt – aber natürlich stimmt das nicht. Die Zeit schreitet voran, und in Wirklichkeit ist die Welt viel größer und faszinierender, als wir dachten.

Wir müssen zulassen, dass ein breiteres Spektrum von Stimmen und die Geschichte der übrigen Welt uns lehren, was vor uns liegt und wer wir werden können. Das ist eine hoffnungsvolle Schlussfolgerung, die mir allemal lieber ist als ein apokalyptisches Denken ohne Ende.

Europa leidet unter Müdigkeit und Fantasielosigkeit. Es ist Zeit, auf neue Stimmen zu hören

Wenn wir beispielsweise den „Westen“ und seine Verbindungen zu Lateinamerika betrachten, sehen wir, dass sein Reichtum auf kolonialen Plünderungen gründet, wie etwa bei dem gestohlenen Silber aus Potosí im heutigen Bolivien. Aber nicht nur Rohstoffe, auch Ideen von dem Kontinent des Globalen Südens haben den Westen zu dem gemacht, was er ist. Selbst das, was wir „Aufklärung“ nennen und für typisch abendländisch halten, wurde in vielem durch eine Auseinandersetzung mit den Indigenen Amerikas geprägt. Als Europäer im 15. Jahrhundert die Neue Welt erreichten, begegneten sie zum ersten Mal Völkern, die ohne König, ohne institutionalisierte Religion lebten. Das war revolutionär.

Nehmen wir den Spanier Hernán Cortés, der nach Tlaxcala östlich von Mexiko-Stadt kam, bevor er sich aufmachte, Technoltican zu erobern. Er stieß auf eine Gesellschaft, die nicht von oben nach unten und trotzdem hochgradig komplex organisiert war. Archäologische Funde zeigen, dass ihr System eher dem entsprach, was wir heute als Demokratie bezeichnen würden. Die Menschen dort hielten Versammlungen ab, um zu diskutieren, ob sie zum Beispiel gegen die Mexica – wie sich die Azteken selbst bezeichneten– vorgehen oder sich mit Cortés verbünden sollten. Für die Europäer, die nur den Befehlen des Königs folgten und sein Wort für das Wort Got- tes hielten, muss es eine überwältigende Erfahrung gewesen sein, derartige öffentliche Debatten zu erleben. Es dürfte ein ganz neues Gefühl von Freiheit gewesen sein, das sie bei ihrer Ankunft auf dem amerikanischen Kontinent verspürten.

Derartige Zusammenhänge beschreiben der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“. Mit Verweis auf aktuellere archäologische Funde widerlegen sie auch fast alles, was wir über die ältere Geschichte zu wissen glaubten. Das betrifft unter anderem die Idee, die Menschen hätten ursprünglich immer nur als Jäger und Sammler in kleinsten, relativ egalitären Gemeinschaften gelebt und ihre Unschuld dann mit der Sesshaftwerdung oder den sogenannten Hochkulturen verloren. Dieses Bild vom „edlen Wilden“ – maßgeblich durch Jean-Jacques Rousseau geprägt – entspricht nicht den Tatsachen.

Sowohl der Gedanke vom Verlust der Unschuld als auch sein Gegenstück, der Fortschrittsglaube, die beide sehr wichtig für das Abendland sind, passen zu einem Verständnis von Geschichte als linearer Entwicklung. Für Graeber und Wengrow trägt dieses Geschichtsverständnis allerdings nicht. Auch auf die heutigen Verhältnisse bezogen, geht es vielmehr um eine Mischung aus Alt und Neu, einen Dialog, eine ständige Interaktion zwischen den Kulturen. Wer genau hinschaut, entdeckt im Norden einen Süden, im Westen einen Osten und im Osten einen Westen. Diese Welt macht auch mehr Spaß.

Der globale Austausch und die Migration können als Quellen der Inspiration dienen: Wir können einander zuhören, Ideen aus verschiedenen Kontinenten sammeln und voneinander lernen, um uns neu zu erfinden. Für Europa lässt sich derzeit eine gewisse Müdigkeit, Fantasielosigkeit und Apathie feststellen. Es ist an der Zeit, auf jene zu hören, die von anderswo kommen. Sie bringen mehr Leben und Farbe in die Alte Welt. Wir können uns neu definieren und Hoffnung schöpfen. Wenn wir nach Lateinamerika blicken, stoßen wir auf inspirierende Ansätze. Etwa bei indigenen Aktivisten und Denkern wie Davi Kopenawa vom Volk der Yanomami und Ailton Alves Lacerda Krenak von den Krenak. Die beiden wurden zunächst bekannt durch ihr Engagement gegen die Zerstörung des Amazonas, wie sie etwa Bergbauunternehmen vorantreiben.

Zugewanderte bringen mehr Leben und Farben in die Alte Welt

Aber in Vorträgen und Büchern umreißen sie auch einen grundlegend nachhaltigeren Lebensstil – in Einklang mit den Kreisläufen der Natur, einer gewachsenen Spiritualität und einer Kultur der mündlichen Überlieferung und des genauen Zuhörens.

Diese wie auch zahlreiche andere indigene Aktivistinnen und Aktivisten sind Teil einer größeren Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die unter dem Schlagwort „Buen Vivir“, „gutes Leben“ gefasst wurde. Sie geht auf den Quechua-Begriff „Sumak kawsay“ zurück, eine traditionelle Vorstellung bei indigenen Völkern in den Anden und im Amazonas: Gemeint ist ein Dasein in Harmonie mit der Umwelt und anderen Lebewesen, ohne die Fixierung auf materielles Wachstum, die Anhäufung und Konzentration von Besitz und Geld. Immerhin flossen auf Initiative solcher Gemeinden und Teilen der Zivilgesellschaft Elemente des Buen Vivir 2007 und 2008 unter linken Regierungen in Bolivien und Ecuador in die Verfassungen ein. Sie reichen vom garantierten Anspruch auf sauberes Wasser und dem Verbot der Privatisierung von Gemeingütern bis zu der Vorstellung, dass die Natur, etwa ein Fluss, eigene Rechte hat.

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie derartiges Gedankengut in die politischen Institutionen eindringen kann, ist Francia Marquez, die Umweltaktivistin und Bürgerrechtlerin, die 2022 zur ersten afrokolumbianischen Vizepräsidentin gewählt wurde. Sie tritt nicht nur in traditioneller Kleidung auf, sondern schöpft auch für das Thema Nachhaltigkeit und Gemeinwohl aus altem Wissen.

Vor diesem Hintergrund kann man auch daran erinnern, dass sogar der Regenwald im Amazonas, oft als unberührte Natur schlechthin verklärt, maßgeblich von Menschen mitgestaltet wurde. Die schwarze Erde, die man dort auf weiten Flächen findet, in Brasilien „terra preta“ genannt, schufen Indigene, unter anderem durch Brandrodung, um Landwirtschaft zu betreiben. Diese dünne Schicht zeichnet sich durch eine enorme Fruchtbarkeit aus.

All das führt mich zurück zu meinem Schamanenfreund – und zu einer abschließenden Überlegung: Gerade einige Entwicklungen in Lateinamerika zeigen, dass die Zukunft nicht vor uns, sondern hinter uns liegt.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns stärker mit (vermeintlich) vergangenen Kulturen befassen und unsere Sicht auf die Geschichte überdenken, denn es gibt viele unvollendete, aber vielversprechende Projekte. Sie könnten genau das sein, was wir brauchen, um voranzukommen.

Protokolliert von Jess Smee

Aus dem Englischen von Claudia Kotte

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