Kolonialismus | England

Verliebt in Angelina Jolie

Der nigerianische Autor Stephen Buoro lehnte die Kultur seiner Heimat lange ab. Heute kritisiert er, wie stark sie ausgebeutet wird

I.

Meine erste „Kulturkrise“ hatte ich im Alter von neun Jahren. Das war 2003 an unserer Schule im Norden Nigerias. Eines Morgens, während der Schulversammlung, verkündete unsere Direktorin ein schockierendes Verbot: Ab sofort durften nigerianische Sprachen auf dem Schulgelände nicht mehr gesprochen werden. Ebenso untersagte sie Pidgin-Englisch, eine in Nigeria weit verbreitete Kreolsprache.

Um dieses Verbot durchzusetzen, brummten unsere Lehrer uns Geldstrafen auf, wann immer wir miteinander in unserer Muttersprache oder in Pidgin-Englisch sprachen. Wer dabei erwischt wurde, aber nicht zahlen konnte, wurde mit Stockschlägen oder anderen körperlichen Züchtigungen gemaßregelt. Wir haben öfter unser gesamtes Mittagessen-geld ausgegeben, um nicht verprügelt zu werden – und blieben hungrig. Paradoxerweise blieb es folgenlos, wenn wir Französisch miteinander sprachen, obwohl es nicht die offizielle Landessprache war. So verlernte ich im Laufe der Jahre, in meiner Muttersprache zu denken. 

Je älter ich wurde, desto mehr begann ich, nicht nur mein linguistisches Erbe, sondern große Teile der nigerianischen Kultur zu verachten. Wäre Ososo, meine Sprache, nicht minderwertig gewesen, warum fehlten ihr dann grundlegende Begriffe für Dinge wie „Brot“, „Radio“ oder „Telefon“? Wie sollte ich Konzepte wie „Transsubstantiation“ in ihr ausdrücken, die Wandlung von Brot und Wein zum Leib und Blut Christi in der Eucharistie?

Noch ein weiteres Ereignis verschärfte meine kulturelle und identitäre Krise. Es geschah an einem Nachmittag kurz vor meiner ersten heiligen Kommunion. Meine Kameraden und ich saßen im Unterrichtsraum unserer katholischen Kirche, als unser Katechismuslehrer, Herr S., das Zimmer betrat. Er sprach mit melodischer Stimme, ein begnadeter Erzähler und Redner. Wir liebten ihn, glaubten alles, was er sagte. Wir wünschten, unsere Eltern wären so überzeugend und klug wie er. Doch an diesem Nachmittag sagte Herr S. etwas, das mein Leben nachhaltig verändern sollte: „Es ist eine Sünde, weltliche Musik zu hören. Die meisten weltlichen Lieder führen euch direkt in die Hölle.“

„Wir waren konsterniert. Schon in unseren kurzen Leben hatten wir Gott erzürnt und würden, sollten wir jetzt sterben, sofort in der Hölle landen“

Wir waren entsetzt. Obwohl wir noch Kinder waren, liebten wir weltliche Musik. Sie definierte unser Dasein, wir fühlten sie bis in unsere Knochen. Wir sangen und tanzten zu ihr auf Geburtstagsfeiern, sie war essenzieller für uns als Essen und Getränke. Um sicherzugehen, dass wir Gott nicht beleidigten, nannten wir unsere Lieblingskünstler und fragten Herrn S., ob ihre Musik sündhaft sei. Die meisten Namen, die wir nannten, waren nigerianische oder afrikanische Musiker: Lagbaja, Eedris Abdulkareem, Awilo. Zu unserem Entsetzen verurteilte Herr S. auch sie. „Prostituierte tanzen dazu“, sagte er. Außerdem sei diese Musik schlecht gemacht, gesungen in gebrochenem Englisch und voller obszöner Begriffe. Wer sie höre, befinde sich auf dem direkten Weg in die Verdammnis. Wir waren konsterniert. Schon in unseren kurzen Leben hatten wir Gott erzürnt und würden, sollten wir jetzt sterben, sofort in der Hölle landen.

Nur um sicherzugehen, fragten wir nach westlichen Künstlern wie Celine Dion, Abba oder Boney M. Herr S. sagte, solche Musik sei zwar nicht per se sündhaft, sie sei gut komponiert und in vernünftigem Englisch gesungen, aber eben doch weltlich. Letztlich könne auch Boney M. zur Sünde verführen.

Diese Worte verfolgten mich bis in meine Träume. Ich sah die lodernden Flammen der Hölle, verabscheute mich dafür, jemals nigerianische Musik geliebt zu haben. Ich schwor mir, sie nie wieder zu hören.

Tage später ging ich zu meinem irischen Priester, einem alten weißen Mann, um zu beichten. Ich kniete neben ihm, meine Füße zitterten. Leise gestand ich ihm all die Male, in denen ich gelogen und mit anderen gestritten hatte. Doch wichtiger war mein Bekenntnis, dass ich weltliche afrikanische Musik gehört und zu ihr getanzt hatte, zu Lagbaja und Awilo, jener Musik, zu der die Prostituierten tanzten.

„Wir tauschten raubkopierte DVDs aus, unterhielten uns stundenlang über Filme, obwohl in ihnen kaum Menschen vorkamen, die so aussahen wie wir“

Im Laufe der Jahre distanzierte ich mich immer weiter von der nigerianischen Kultur. Meine Freunde und ich waren besessen von Westlife, Lil Wayne, Eminem, Akon, Rihanna, Nicki Minaj. Wir hielten Mitschüler, die lokale Musik hörten oder nigerianische Filme sahen, für unzivilisiert. Denn wenn unsere Kultur nicht minderwertig sein sollte, warum war sie dann nicht so „cool“ und wurde nicht weltweit so sehr gefeiert und akzeptiert wie die des Westens? Warum gab es keine Afrobeat-Songs in den Charts? Hatte doch ein Großteil des amerikanischen Sounds, den wir hörten – Rap, R&B, Pop –, seine Wurzeln in afrikanischer Musik. Um in der Schule dazuzugehören, mussten wir westliche Kultur lieben und konsumieren: Wrestling, die englische Premier League, Nike- und Adidas-Sneaker, den neuesten James-Bond-Film, Tom Cruise oder Actionfilme von Marvel. Wir tauschten raubkopierte DVDs aus, unterhielten uns stundenlang über Filme, obwohl in ihnen kaum Menschen vorkamen, die so aussahen wie wir. Wir begannen, uns nach den Männern und Frauen in diesen Filmen zu sehnen, wünschten uns, Angelina Jolie oder Brad Pitt daten zu können. Doch bald erkannten wir, dass diese Erfahrungen der „Otherness“, der Entfremdung von der eigenen Kultur zugunsten einer kolonialen, nicht nur uns betraf. Sie hatte nicht nur unser ganzes Land erfasst, sondern den gesamten afrikanischen Kontinent.

Wir begannen schon als Kinder eine gespaltene, doppelte Identität zu entwickeln: Zu Hause mit unseren Eltern waren wir nigerianisch, wir aßen nigerianisches Essen und sprachen unsere nigerianische Muttersprache. Aber wenn wir unter uns waren, in der Schule oder mit Gleichaltrigen zusammen, waren wir Amerikaner, Briten, Franzosen.

II.

Im Jahr 2018 zog ich nach Großbritannien, um mein Masterstudium zu beginnen. Ich erwartete eine homogene westliche Gesellschaft, stattdessen erlebte ich eine vibrierende, multikulturelle Welt, besonders in Metropolen wie London: indische Restaurants, chinesische Imbissstände und afrikanische Lebensmittelläden. Was mich am meisten überraschte: Viele der Gäste dieser Lokale waren Weiße. Vor der Universität beobachtete ich, wie Briten mit Hingabe nigerianischen Jollof-Reis bei einem Straßenstand kauften, sich auf Bänke setzten und jedes Korn genossen. Das war dieselbe Gesellschaft, die unser afrikanisches Essen, ja unsere ganze Kultur, über Jahrhunderte herabgesetzt und marginalisiert hatte. Erst letztes Jahr wurde die nigerianische, auf westafrikanische Küche spezialisierte Köchin Adejoké Bakare als erste Schwarze Frau in Großbritannien mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. 

Man spielte schon seit Längerem Afrobeat-Songs aus meiner Heimat auf BBC Radio, in Supermärkten, Fitnessstudios und Nachtclubs. Bald eroberte diese Musik die Charts und gewann wichtige Preise wie Grammys. Dieser Sound, den der Westen jahrzehntelang abgetan hat und nun feiert, gilt in meinem eigenen Land ironischerweise nach wie vor als sündhaft und minderwertig.

Eine Weile lang schämte ich mich wahnsinnig dafür, meine eigene Kultur in der Kindheit und Jugend abgelehnt zu haben. Doch das änderte sich bald. Zunehmend empfand ich die Hybris Großbritanniens, des Westens insgesamt, als Verrat. Es ärgerte mich wahnsinnig, dass man hier so sehr von anderen Kulturen profitierte, aber sie weiterhin oftmals respektlos behandelte. Kulturen, in deren Ursprungsländern junge Menschen noch immer darauf konditioniert werden, die eigene Tradition zugunsten einer westlichen abzulehnen, während der Westen genau diese Kulturen für sich vereinnahmt.

„Nach Jahrhunderten der kulturellen Überheblichkeit beginnt der Westen nun, die Grenzen und Mängel seines eigenen Ethnozentrismus zu erkennen“

Einerseits verdankt der Westen seinen Reichtum dem Kolonialismus und besitzt riesige Sammlungen geraubter Artefakte; dass westliche Gesellschaften so attraktiv sind, gründet auf dieser Vielfalt wie auch den sozioökonomischen Vorteilen, die sich daraus ergeben. Andererseits werden genau dadurch immer mehr Menschen aus anderen Teilen der Welt angezogen, und zwar zum Nachteil ihrer Heimatländer. Auch im 21. Jahrhundert wird immer mehr geistiges wie materielles Welterbe vom Westen vereinnahmt. Was für eine Ironie der Geschichte.

Nehmen wir Norwich, die kleine Stadt im Osten Englands, in der ich lebe. Hier kann man ein bedeutendes Stück des Welterbes entdecken. Im Sainsbury Centre, einem wunderschönen Museum, stehen Skulpturen aus Westafrika, Asien und Amerika. Auch die Sammlung nigerianischer Kunst ist beeindruckend – während viele Städte in Nigeria selbst nicht einmal über ein ordentliches Museum verfügen.

Wer sich in Norwich für nichtwestliches Essen interessiert, ob chilenisch, kubanisch, japanisch, peruanisch oder thailändisch, wird hier fündig. Das gilt nicht für viele Städte Nigerias, selbst wenn sie um ein Vielfaches größer sind. Ein vietnamesisches Pho-Restaurant zu finden, ist dort fast unmöglich. In Norwich hingegen kenne ich gleich mehrere. Selbst in vielen britischen Dörfer gibt es chinesische oder indische Lokale.

Nach Jahrhunderten der kulturellen Überheblichkeit beginnt der Westen nun, die Grenzen und Mängel seines eigenen Ethnozentrismus zu erkennen, und er sehnt sich nach dem, was er einst verachtet hat. Eine stille „Transkulturation“ hat begonnen, ein Verschmelzen der ehemals kolonialen Einflüsse mit der Kultur des Westens selbst.

„Die neue, andere Identität des Westens ermöglicht es seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, sich zu öffnen; ihre Geschmacksnerven werden erweitert“

Dieser Prozess hat eine längst überfällige Identitätskrise ausgelöst. Die Rechte hyperventiliert beim Gedanken an das „Ende des Westens“. Dabei begann der Niedergang seines ethnozentristischen Identitätsmodells bereits in dem Moment, als der erste europäische Händler seine Segel setzte, um hinaus in die weite Welt zu fahren und Geschäfte zu machen oder, wenig später, erste Kolonien zu gründen.

Man könnte sagen, der Westen durchläuft eine postkoloniale Metamorphose, einen aufwühlenden „Prozess der Alterität“, der Auseinandersetzung mit dem „Anderen“. Nur, dass dieses Andere nicht mehr bei den kolonialisierten und dominierten Kulturen jenseits des Atlantiks und Mittelmeeres zu verorten ist, sondern in sich selbst. Dadurch müssen Menschen im Westen nicht nur sich selbst und ihre kulturelle Ordnung hinterfragen, sie werden vielmehr stimuliert und bereichert. Westliche Identität wurde lange als Einheit betrachtet. Doch heute dominiert eine „identity of the other“, in der Altes und Fremdes miteinander unmerklich verschmilzt. Identität ist eben doch nicht so statisch, wie uns lange eingeredet wurde. Sie wächst und verändert sich mit jeder Begegnung. In Büros, Universitäten, auf Partys – überall sind Menschen gezwungen, sich auf das Andere einzulassen und etwas davon in sich aufzusaugen. Sie hören fremde Akzente, probieren ungewohnte Speisen, trinken Getränke aus Kulturen, die einst als minderwertig galten. 

Gerade die Nahrung, die wir zu uns nehmen, verändert uns, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Sie ist ein Schlüssel zur Kultur, ein Code, der nicht nur den Magen, sondern auch das Bewusstsein nährt. Die neue, andere Identität des Westens ermöglicht es seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, sich zu öffnen; ihre Geschmacksnerven werden erweitert, ihr Musik- und Kunstverständnis geformt, ihre Vorstellung vom Menschsein erschüttert.

„Während der Westen politisch immer weiter nach rechts driftet, wird diese Diskriminierung gegenüber Zugewanderten noch zunehmen“

Postkoloniale Theorien helfen, diesen Wandel zu verstehen. Begriffe wie Aneignung, Transkulturation, Hybridität und multiple Identität, Konzepte, die ursprünglich auf die kolonisierten Völker angewandt wurden, eignen sich nun auch für den Westen selbst. Dieser Fakt lässt sich nicht mehr leugnen. Durch Hybridität entstehen „dichotomisierte Systeme“ im Sinne von Valentin-Yves Mudimbe – Strukturen, die zugleich westlich und nichtwestlich sind, weiß und nicht-weiß, Kolonisator und Kolonisierter, säkular und spirituell, individuell und gemeinschaftlich. Das „britische Curry“, das seine Wurzeln in der indischen Küche hat, ist ein perfektes Beispiel für Transkulturation. Ebenso chinesische Restaurants mit zwei Speisekarten: einer auf Englisch, mit Gerichten, die für den westlichen Geschmack angepasst wurden – weniger scharf, milder; und einer auf Mandarin, für chinesische Gäste, mit Speisen, die der Westen noch nicht für sich entdeckt hat.

Am Ende profitiert der Westen von dieser Multikulturalität mehr als die Menschen, die ihn mit ihrer Kultur bereichern. Zum einen müssen Pioniere oftmals ihre Authentizität opfern, um Anerkennung zu finden. Zum anderen werden ihre Namen, sobald ihr kulturelles Erbe adaptiert ist, oft schnell wieder vergessen. Ihre Kultur wird in eine neowestliche Form überführt, an der westliche Unternehmen verdienen, während sie selbst weiterhin Diskriminierung erleben. 

Und während der Westen politisch immer weiter nach rechts driftet, wird diese Diskriminierung nur noch zunehmen. Die antimigrantischen Unruhen, die im letzten Jahr in Großbritannien ausbrachen, sind ein warnendes Beispiel. Geschäfte ethnischer Minderheiten wurden verwüstet, geplündert, niedergebrannt. Viele Unternehmer überlegten, ob sie überhaupt weitermachen sollten.

Einer von ihnen war Mohammed Idris, ein sudanesischer Cafébesitzer, dessen Laden in Flammen aufging. Seit über zwanzig Jahren lebt er in Großbritannien. Fassungslos und entmutigt sagte er: „Ich werde in England immer ein Fremder bleiben.“

Aus dem Englischen von Ruben Donsbach