„Der Westen muss seine Hybris ablegen“
Foto: Geertje van Achterberg
Das Interview führte Julia Stanton
Sie sind auf dem Feld der digitalen Anthropologie tätig. Was genau bedeutet das?
In meiner Forschung konzentriere ich mich auf die digitalen Verhaltensweisen chronisch unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Globalen Süden. Ich bin Mitbegründerin von Inclusive AI Lab, einem Beratungsunternehmen, das sich auf die Förderung von KI-Kenntnissen und Inklusivität konzentriert. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeite ich als Vermittlerin zwischen verschiedenen Interessengruppen, um digitale Systeme aufzubauen, die nachhaltig, langlebig und inklusiv sind. Es ist wichtig zu erkennen, dass KI nicht nur ein Werkzeug ist, sondern eine kulturelle Praxis. Sie prägt die Art und Weise, wie wir mit der Welt interagieren, und durchdringt das tägliche Leben. Um eine wirklich inte-grative KI zu schaffen, müssen wir die grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungen und Prägungen verstehen, die den Umgang mit der Technologie beeinflussen.
In Ihrem aktuellen Buch »From Pessimism to Promise. Lessons from the Global South on Designing Inclusive Tech« schreiben Sie, dass es im Globalen Norden oder in der westlichen Welt eine »pessimism paralysis« gibt, eine Lähmung durch Pessimismus. Was meinen Sie damit?
Mit dem Begriff umreiße ich das wachsende Gefühl der Resignation, das ich in Europa erlebe. Es herrscht die Annahme vor, dass wir keine andere Wahl haben, als mit monolithischen Technologieunternehmen zusammenzuarbeiten. Dadurch entsteht ein Dilemma, das Pessimismus fördert: Entweder wir lassen uns weiterhin auf diese Plattformen ein oder wir lösen uns ganz von ihnen. Oder wir versuchen, sie zu kontrollieren. Meiner Erfahrung nach denken viele Menschen im Westen bei dem Thema an Überwachungskapitalismus oder Algorithmen der Unterdrückung. Sie suchen geradezu nach negativen Aspekten, weil sie darauf getrimmt wurden. Das Problem dieser Haltung ist, dass sie den Blick verengt, sodass man den größeren Zusammenhang aus den Augen verliert.
Eine Ihrer Thesen ist, dass sich Menschen im Globalen Süden stärker für technologische Innovationen begeistern können als jene im Westen. Warum ist das so?
Ein wichtiger Aspekt ist die Demografie. In Regionen wie Subsahara-Afrika und Südasien sind über 65 Prozent der Bevölkerung unter dreißig Jahre alt. Junge Menschen tendieren dazu, optimistischer zu sein, weil sie ihr ganzes Leben noch vor sich haben.
Dazu kommt, dass es in der Vergangenheit unmöglich schien, den Rückstand gegenüber Industrieländern aufzuholen. Das ist nicht mehr der Fall. Nehmen wir zum Beispiel China: Das Land war früher arm. Mittlerweile ist das Ausmaß des Fortschritts dort außergewöhnlich. In vielen Bereichen hat China die Führung übernommen. Wenn Sie die Zukunft der Finanztechnologie sehen wollen, schauen Sie nach China – oder in die Vereinigten Arabischen Emirate.
Ein dritter Aspekt ist, dass viele Länder des Globalen Südens durch patriarchalische und autoritäre Systeme geprägt sind. In diesen Regionen vermitteln digitale Werkzeuge ein Gefühl von Freiheit, mit ihrer Hilfe kann man Gegenstimmen zu staatlich kontrollierten Narrativen Gehör verschaffen. In vielen Fällen sind diese digitalen Werkzeuge sogar überlebenswichtig. Während der Pandemie waren Plattformen wie Meta für Menschen, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren, die Rettung. In Bangladesch, wo es keinen Amazon-Marketplace gibt, nutzten Frauen Facebook, um Waren zu verkaufen und ihre Familien zu ernähren.
„Unser Pessimismus wurzelt in Angst vor Veränderungen“
Was sollten wir also anders machen?
Die Grundannahme scheint heutzutage ja zu sein: Wenn Menschen Big Tech positiv gegenüberstehen, müssen sie naiv oder uninformiert sein. Das ist eine zutiefst herablassende Sichtweise. Die Realität ist, dass ein Großteil der Welt diese Plattformen einfach nicht meiden kann. Wir müssen aufhören, uns selbst auf ein Podest zu stellen und uns für unsere vermeintliche moralische Überlegenheit auf die Schulter zu klopfen und stolz zu erklären: „Ich bin nicht auf X [das frühere Twitter, Anmerkung der Redaktion]“. Unser Pessimismus wurzelt in Angst: vor dem Verlust unserer Vormachtstellung, vor Veränderungen, vor einer Welt, in der wir nicht mehr standardmäßig die Führung haben. Anstatt Widerstand zu leisten, sollten wir dies als Chance sehen, uns zu engagieren, zu lernen und mit anderen zusammenzuarbeiten. Es wird viel über Verbote, Kürzungen und Blockaden gesprochen. Das ist nicht die Antwort. Wir sehen das am Beispiel von TikTok. Die Menschen haben TikTok nicht toleriert, sie haben sich in TikTok verliebt. Es war zeitweise die am häufigsten heruntergeladene App weltweit. Als die App in Indien verboten wurde, betraf das vor allem junge Menschen in ländlichen Regionen. Ich denke, wir sollten uns anhören, warum die Menschen die App schätzen. Und auf der Grundlage dieser Informationen sollten wir dann über die Spielregeln nachdenken. Der Hauptaspekt dabei sollte sein, neue Wege zu finden, wie diese Unternehmen uns als Gesellschaft etwas zurückgeben können. Das ist eine ganz andere Diskussion als ein Verbot.
Was sind typische Missverständnisse, wenn Menschen aus dem Westen auf den Rest der Welt blicken, besonders wenn es um neue Technologien geht?
Vorherrschend ist noch immer eine zutiefst arrogante Sichtweise: Im Westen werden Innovationen entwickelt, und dann sickert das Ganze zum Rest der Welt durch. Nehmen wir Elon Musks Vision, Twitter/X in eine westliche Version von WeChat zu verwandeln, einer multifunktionalen Plattform, die in China schon seit Jahren existiert. Niemand hält inne, um zu fragen: Warum wird die Zukunft von X nach dem Vorbild der chinesischen Vergangenheit gestaltet? Wenn man mit dem Erfolg nicht-westlicher Errungenschaften konfrontiert wird, tut man sie ab und behauptet zum Beispiel, dass man in China OpenAI kopiert habe. Aber das ist nicht wahr: Viele Firmen im Globalen Süden gehen die Dinge anders an, und sie machen gewaltige Fortschritte. Der Westen muss seine Hybris ablegen, sonst wird er weiter verlieren. Die Welt verändert sich. Es entstehen neue Kooperationen, mit oder ohne uns.
Haben Sie weitere Beispiele für global relevante Innovationen, die im Globalen Süden oder, allgemeiner, außerhalb der westlichen Tech-Welt entstehen?
Das chinesische Start-up DeepSeek und die Einführung seines neuesten KI-Modells sind ein Wendepunkt. Seit Jahren fragen sich die Europäer: Wie können wir mit den USA, die Milliarden in die KI investieren, mithalten? Es schien unmöglich. Doch dann kommt China daher und erzielt mit einem Bruchteil der Mittel die gleichen Ergebnisse und beweist, dass Innovation nicht nur mit schierer Finanzkraft zu tun haben muss. Und in vielerlei Hinsicht macht es China besser: DeepSeek ist weniger umweltschädlich, und man nimmt sprachliche Vielfalt ernst. Vielfalt ist ein Vorteil. DeepSeek übertrifft OpenAI, weil es in mehreren Sprachen und Kulturen trainiert wurde und mehr Nuancen erfasst.
Ein weiteres Beispiel ist die digitale öffentliche Infrastruktur Indiens, die auch als IndiaStack bekannt ist. Das Land hat ein Open-Source- und Open-Code-System aufgebaut, in dem Unternehmer aus der ganzen Welt Anwendungen entwickeln können, ohne an iOS oder Android gebunden zu sein. Indistack wird nun sogar von europäischen Politikern als potenzielles Modell für Entwicklungen im eigenen Land diskutiert.
Was machen die Technologieunternehmen im Globalen Süden besser als im Silicon Valley?
Dort denkt man viel nachhaltiger, weil man nicht den Luxus überschüssiger Ressourcen hat. Im Westen ist es üblich, lebenswichtige Dinge wie Wasser und Strom als selbstverständlich anzusehen. Deshalb müssen wir vom Globalen Süden lernen, vor allem bei der Bewältigung der Klimakrise. Die Lösungen, die wir brauchen, gibt es bereits an Orten, wo Ressourceneffizienz eine Notwendigkeit ist.
Ein weiterer entscheidender Faktor ist der Fokus auf Mehrsprachigkeit, die in vielen Ländern im Globalen Süden die Norm ist. OpenAI hat Englisch als Sprache bevorzugt. Das ist ein westlich geprägter Ansatz, der ignoriert, wie im Rest der Welt tatsächlich kommuniziert wird.
„China beweist, dass Innovation nicht nur mit Finanzkraft zu
tun haben muss“
Aber ist DeepSeek wirklich so anders als Big-Tech-Unternehmen in den USA? Bei der App wird auch manches zensiert.
Ja, das ist wahr. DeepSeek wird nicht als Raum für einen offenen Dialog dienen können. Aber die USA werden von Monopolisten beherrscht, denen der Energieverbrauch schockierend gleichgültig ist. Europa hat hier eine einzigartige Chance: Es kann Innovationen fördern, Unternehmer unterstützen und unserer eigenen Bevölkerung signalisieren, dass jetzt unsere Stunde schlägt. Liberale Werte sind keine Schwäche, sondern ein Vorteil. In Europa arbeiten einige der besten Wissenschaftler der Welt, und es verfügt über eine gut ausgebildete Bevölkerung. Das Einzige, was fehlt, sind der Wille und die Dynamik. Es braucht einen Glauben daran, dass ein Wandel möglich ist. Das bedeutet nicht, dass wir die realen und berechtigten Sorgen über hypermonopolistische Technologieunternehmen abtun sollen. Es bedeutet anzuerkennen, dass Hoffnung eine notwendige Ressource ist, um konstruktiv voranzukommen.
DeepSeek eröffnet also neue Möglichkeiten für Europa, indem es mehr Wettbewerb schafft?
Ja, derartige Innovationen tragen dazu bei, dass sich ein fairerer Markt entwickelt. Wir machen uns zu oft Gedanken darüber, wer zuerst mit Innovationen beginnt, anstatt uns darauf zu konzentrieren, woher gute Ideen kommen. Entscheidend bleibt, dass es möglich ist, mit weniger Ressourcen ähnliche Ergebnisse zu erzielen. Als Reaktion auf die DeepSeek-KI hat die indische Regierung einen Aufruf an Entwickler gestartet, eine heimische KI zu entwickeln. Diese Energie möchte ich auch in Europa sehen. Wenn China es kann, wenn Indien es kann, können wir es auch. Wettbewerb in diesem Bereich ist gesund.
Anstatt sich also nur auf die Regulierung zu konzentrieren, sollte Europa mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sollten in Open-Source- und Open-Code-Systeme investieren und Ansätze entwickeln, die demokratische Werte widerspiegeln. Anstatt als Regulierungsbehörde der Welt zu agieren, haben wir die Möglichkeit, ein echter Innovator zu sein. Ist das nicht eine überzeugendere Vision?