Das Zeitalter der Ungewissheit

Die Journalistin und Historikern Anne Applebaum
Foto: Maciej Zienkiewicz
Das Interview führte Jess Smee
Frau Applebaum, als Donald Trump 2016 für das Amt des US-Präsidenten kandidierte, stellten Sie in einem Gastbeitrag für die »Washington Post« die Frage: „Ist dies das Ende des Westens, wie wir ihn kennen?“ Wie würde heute Ihre Antwort lauten?
Meine Antwort lautet: Ja, dies ist das Ende des Westens in der uns bekannten Form. Die achtzig Jahre völkerrechtsbasierter Politik, die wir erlebt haben, sind vorbei. Wir befinden uns in einem anderen Zeitalter, das mit der russischen Invasion der Ukraine begann.
Wie würden Sie diesen neuen Abschnitt charakterisieren?
Wir wissen noch nicht, wie die neue Ära genau aussehen wird, aber wir können nicht länger davon ausgehen, dass wir in einer Welt leben, in der Grenzen respektiert werden und es so etwas wie ein Völkerrecht gibt, das von den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Organisationen durchgesetzt wird. Putin hat ja auch unter anderem deshalb den Einmarsch in die Ukraine befohlen, um zu zeigen, dass dies nicht mehr zutrifft. Mit seiner Invasion wollte er sagen: Ihr habt da diese ganzen Institutionen. Ihr habt eure Rechtsstaatlichkeit. Ihr habt die Genfer Konvention. Jetzt zeige ich euch, dass das keine Rolle spielt und ich mich darüber hinwegsetzen kann – und ihr könnt mich nicht aufhalten. Von diesem Zeitpunkt an kamen auch in den meisten europäischen Demokratien erste Zweifel an der internationalen Ordnung auf. Deshalb haben wir es meiner Meinung nach mit einem Phänomen zu tun, das sowohl international als auch innerstaatlich ist.
Ist der Begriff „Westen“ überhaupt noch sinnvoll?
Den Begriff „Westen“ verwende ich nicht, ehrlich gesagt. Der Begriff stammt aus dem Kalten Krieg und ist inzwischen inhaltsleer geworden. Ich rede stattdessen von der „demokratischen Welt“ und meine damit die europäische Demokratie, die Demokratien in Asien, die USA und eine Handvoll anderer Länder oder die Länder der „transatlantischen Allianz“, zu der Westeuropa, Osteuropa, Nordamerika, die USA und Kanada gehören.
Wie hat sich die Rolle des Westens als internationaler Akteur und moralische Instanz in den vergangenen Jahren gewandelt?
Aus meiner Sicht gibt es westliche Demokratien, die nach wie vor wertebasierte Allianzen bilden. Diese Länder glauben gemeinsam mit anderen an rechtsstaatliche Transparenz und Verantwortlichkeit, an Menschenrechte und Gerechtigkeit. Sie sind überzeugt, dass Grenzen unantastbar sind und es wichtig ist, die Mittel der Diplomatie zu nutzen und Kriege zu beenden. Es gibt eine Gruppe von Ländern, die an diesem Denken festhalten, aber ob die Vereinigten Staaten noch dazugehören, ist nicht klar.
Welche Perspektiven sehen Sie für die USA?
Die neue Regierung hat sehr dramatische Schritte unternommen, die eine veränderte Einstellung zur internationalen Politik erkennbar werden lassen. Es kann zum Beispiel sein, dass es in den USA demnächst keinen unabhängigen öffentlichen Dienst mehr geben wird. Die Regierung hat alle Auslandshilfen gestoppt – mit erheblichen Auswirkungen weltweit. Trump redet davon, dass er Grönland, Panama und vielleicht sogar Kanada besetzen will. Selbst wenn er seinen Worten keine Taten folgen lässt, ist das ein Novum und ein Akt der Feindseligkeit.
Überrascht Sie das Tempo der Veränderungen?
Trump hat den Menschen gesagt, dass er extremer agieren wird als zuvor – und genau das tut er jetzt. Deshalb wundert es mich, wenn Leute davon überrascht sind. Er hat im Wahlkampf mit einer sehr extremen Sprache gearbeitet, die er eins zu eins aus den 1930er-Jahren übernahm. Er behauptete, Einwanderer würden das Blut der Amerikaner verunreinigen. Diese Äußerung ist Originalton Hitler. Ich weiß nicht, ob er sich diese Formulierung selbst ausgesucht hat oder ob sie von jemandem aus seinem Umfeld kam, aber er hat es so gesagt – und es gibt noch mehr Beispiele dieser Art.
In Ihrem Buch „Die Achse der Autokraten“ beschreiben Sie den Aufstieg des Autoritarismus. Wie gehen undemokratische Regime vor, um sich zu vernetzen und ihre Macht zu festigen?
Es gibt ein regelrechtes internationales Netz von Diktaturen, zu dem Russland, China, Nordkorea, Iran und auch Venezuela, Kuba, Nicaragua, Belarus und Simbabwe gehören. Ich habe untersucht, wie sie zusammenarbeiten, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie verhalten sich meist opportunistisch und transaktional. Sie haben gewisse gemeinsame finanzielle Interessen. Diese Staaten sind Kleptokratien, deren Führung gelernt hat, wie man Geld stiehlt und versteckt. Meistens nutzen sie dafür das internationale Finanzsystem, Geldwäschestrukturen und Steuerparadiese. Sie investieren gemeinschaftlich in anderen Ländern dieses Netzwerks und unterstützen sich gegenseitig auch militärisch. Iran beliefert Russland mit Drohnen, um Ukrainer zu töten; nordkoreanische Soldaten kämpfen in der Ukraine. Und natürlich helfen die Chinesen den Russen mit Bauteilen für ihre Rüstungsindustrie. Auch in Syrien haben Russland und Iran zusammengearbeitet. Diese Länder helfen sich gegenseitig, ihre Macht zu sichern. Maduros Regime in Venezuela verdankt seine Existenz fast ausschließlich einer militärischen Unterstützung durch Russland, chinesischen Investitionen, der kubanischen Geheimpolizei und der iranischen Hilfe dabei, Sanktionen zu begegnen.
„Wer sich nicht für die europäische Sicherheit engagiert, wird seine Souveränität verlieren“
In Europa erleben wir einen Aufstieg der extremen Rechten und Wut in der Bevölkerung. Kooperieren autokratische Netzwerke inzwischen effektiver als die liberalen Kräfte in Europa?
Europa arbeitet immer noch recht gut zusammen. Wie Europa die Ukraine verteidigt, ist ziemlich beeindruckend. Die Ukraine behauptet sich seit drei Jahren gegen ein Land, das viel größer ist als sie. Die Verluste der russischen Seite belaufen sich auf mehr als 700.000 Todesopfer und Verletzte. Durch die europäischen Sanktionen erleidet Russland massiven wirtschaftlichen Schaden. Die NATO arbeitet auf einem Niveau, das vor vier Jahren niemand für möglich gehalten hätte.
Sind Sie also zuversichtlich, dass diese Institutionen stark genug sind, um dem Druck standzuhalten?
Bei einigen europäischen Staaten habe ich ein ganz gutes Gefühl. Skandinavien, die baltischen Staaten, Polen und Großbritannien werden auf lange Sicht zusammenarbeiten und sich davon nicht abbringen lassen. Mit der Zeit wird sich immer deutlicher zeigen: Wer sich nicht für die europäische Sicherheit engagiert, wird seine Souveränität verlieren. Zumindest einige Länder haben das bereits erkannt.
Aber auch in Europa und der EU erleben wir, dass sich autokratische Tendenzen herausbilden.
Natürlich. Ungarn ist de facto ein autokratischer Einparteienstaat, in dem die Regeln so gesetzt werden, dass diese Partei alle Wahlen gewinnt. Das System ist zutiefst korrupt und führt dazu, dass das Land arm und immer ärmer wird. Ähnliche autokratisch-populistische Parteien sind auch anderswo an die Macht gekommen – zum Beispiel in der Slowakei. Auch wir in Polen hatten eine solche Partei, die inzwischen wieder abgewählt wurde. In Deutschland zeigt sich der Trend zum Autokratischen in Form der AfD, die viel Unterstützung erfährt. Vergleichbare Parteien gibt es in Österreich, in der Tschechischen Republik, Frankreich und anderswo.
Welche Rolle spielt Desinformation für die Untermauerung autokratischer Narrative?
Desinformation ist der falsche Begriff. Wir sollten von Propaganda sprechen. Das moderne autokratische Netzwerk agiert dreigleisig: Militär, Finanzen, Propaganda. Die Propaganda der autokratischen Akteure vermischt Fakten mit Unwahrheiten und umwirbt damit die Menschen. Sie ist sehr wirkungsvoll. Die Russen stricken schon lange an dem Narrativ, Autokratien stünden für Stabilität und Sicherheit und Demokratien seien schwach und gespalten. Dieses Gedankengut, bei dem verschiedene Motive ausgespielt werden, greifen ihre Verbündeten in Deutschland und den USA bereitwillig auf. Es wird für eine traditionelle Gesellschaft geworben und gegen Einwanderung gewettert, verbunden mit einer mystisch überhöhten Vorstellung von „Nation“, deren Wurzeln in die 1930er-Jahre zurückreichen.
„Desinformation ist der falsche Begriff. Wir sollten von Propaganda sprechen“
Müssen wir Ihrer Meinung nach mehr tun, um die Macht der sozialen Medien zu begrenzen?
Eine Regulierung der sozialen Medien könnte mehr Transparenz schaffen und dafür sorgen, dass die Menschen die Kontrolle über ihre Daten bekommen. Sie könnten wählen, was sie sehen, statt nur das zu sehen, was der Algorithmus ihnen vorsetzt. Die einzige Institution auf der Welt, die das bewerkstelligen könnte, ist die Europäische Union. Sie prüft gerade die Möglichkeiten, aber ob sie den Mut hat, das durchzuziehen, weiß ich nicht. Das ist eine der großen politischen Fragen der nächsten Jahre.
Ist das für uns eine Möglichkeit, unsere Demokratie zu schützen?
Ja. Wichtig ist aber auch die Bekämpfung der Kleptokratie in unseren Gesellschaften. Hier gibt es viele dicke Bretter zu bohren – etwa die Abschaffung von Steuerparadiesen, anonymen Unternehmen und anonymem Immobilienbesitz. Ob der Wille dazu momentan in ausreichendem Maß vorhanden ist, weiß ich allerdings nicht.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld