Widerstand

Staatsaffäre

Im ungelösten Konflikt zwischen Spanien und Katalonien geht es darum, wie ein demokratischer Staat auf den Wunsch nach Selbstbestimmung reagiert. Ein Besuch in Barcelona

Zerfledderte Regenschirme stecken in Mülltonnen, auf den Straßen liegen Palmwedel verstreut. Ein Wintersturm hat Barcelona heimgesucht. Große Teile des Stadtstrands sind fortgespült. Doch nicht allein wegen der Wetterkapriolen herrscht in der katalanischen Hauptstadt eine angespannte Atmosphäre.

Seit einigen Jahren schon versucht Katalonien, sein Verhältnis zum spanischen Zentralstaat neu zu justieren. Mehr Kompetenzen, eine größere Autonomie für die Region, so lauten die Forderungen, ein Teil der Bevölkerung kann sich sogar eine Loslösung von Spanien vorstellen. In den vergangenen Monaten hat der schwelende Konflikt, in dem Spaniens Justiz und Sicherheitskräfte hart gegen Befürworter der staatlichen Unabhängigkeit Kataloniens vorgehen, eine neue Eskalationsstufe erreicht. Der Nationale Gerichtshof verurteilte zwölf Anführer der Unabhängigkeitsbewegung zu Haftstrafen von bis zu zwölf Jahren.

Auch wenn die spanische Regierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez um Schadensbegrenzung bemüht ist, gilt das Verhältnis zwischen Katalanen und Spaniern als zerrüttet. Für beide Seiten sind die Grundfesten der demokratischen Ordnung berührt. Doch welches Prinzip wiegt schwerer: das Recht eines Staates die Integrität seines Territoriums zu verteidigen oder die Rechte einer Minderheit, die einen Teil des Landes zur Not auch unilateral verändern will?

Eine, die eine klare Vorstellung davon hat, was in Katalonien passieren sollte, ist Txell Bonet: »Ich fordere ein Referendum, damit die Leute entscheiden können.« Damit meint sie eine Abstimmung darüber, ob die Region künftig eine eigenständige Republik wird. Bonet ist Journalistin, sie hat für katalanische Medien über den Freiheitskampf in Myanmar berichtet, politische Gefangene interviewt und engagiert sich für den Klimaschutz. Doch seit der Verhaftung ihres Mannes ist sie vor allem mit der Situation in Katalonien beschäftigt. Jordi Cuixart, mit dem sie zwei Kinder hat, sitzt seit 2017 im Gefängnis. Er ist einer der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung. Neun Jahre Haft für »Aufruhr«: ein Strafmaß, das Rechtsprofessor Joan Queralt für viel zu hoch hält: »Diese Strafen entsprechen denen für Totschlag.«

Doch wie geriet Cuixart überhaupt in den Fokus der Strafbehörden? Der Unternehmer ist Vorsitzender von Òmnium Cultural, einer noch zu Zeiten Francos gegründeten Kulturorganisation, deren Ziel es ist, die katalanische Kultur zu schützen und zu fördern. »Òmnium Cultural ist mit 108.000 Mitgliedern der stärkste Verein Spaniens«, erklärt Joan Queralt. Zusammen mit der Asociacion Nacional Catalana (ANC) hat er 2017 rund 2,5 Millionen Menschen auf die Straße gebracht, um über die Zukunft Kataloniens abzustimmen.

Ein Teil der Katalanen kann sich die völlige Loslösung von Spanien vorstellen

Im Vorfeld dieses Referendums, das vom spanischen Verfassungsgericht verboten wurde, durchsuchte die Guardia Civil am 20. September 2017 das katalanische Ministerium für Wirtschaft und Finanzen. Cuixart und der ebenfalls verurteilte Jordi Sánchez von der ANC riefen zum Widerstand auf. Tausende Bürger blockierten das Regierungsgebäude, drei Polizeiautos gingen zu Bruch. Queralt widerspricht dem Gericht, das diese Aktionen als »Aufruhr« einschätzte. Das sei ein Urteil, »das sich am Rande des Gesetzes bewegt; es gab keinen Aufstand, weil Aufstände gewalttätig und tumultartig sind«. Gewalt habe es aber nicht gegeben. Auch die Organisation Amnesty International, die den Strafprozess beobachtete, befand Ende vergangenen Jahres, dass die Verurteilungen von Jordi Sánchez und Jordi Cuixart ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung verletzten, und forderte ihre Freilassung.

Der aktuelle Konflikt zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und spanischer Zentralregierung geht auf den Streit um ein neues Autonomiestatut zurück, mit dem Katalonien innerhalb Spaniens mehr, insbesondere finanzielle, Autonomie erreichen wollte. Es trat 2006 in Kraft, vier Jahre später erklärte das Verfassungsgericht 14 der insgesamt 223 Artikel ganz oder teilweise für verfassungswidrig. Die Richter störten sich an dem Begriff »Nation«, mit dem Katalonien in der Präambel des Statuts beschrieben wurde. Über eine Million Menschen gingen daraufhin am 10. Juli 2010 in Barcelona auf die Straße. Die Regionalregierung schwenkte um auf einen Unabhängigkeitskurs und setzte schließlich 2017 ein Referendum an. Da es für illegal erklärt worden war, sprangen Aktivisten ein, um eine Abstimmung zu ermöglichen, Feuerwehrmänner schützten die Wähler vor der Guardia Civil, die Knüppel einsetzte. Für Queralt ist dies eine Besonderheit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung: »Ein Teil der Behörden macht gemeinsame Sache mit der Protestbewegung.«

Auf die Verurteilung einzelner Akteure reagierte die Unabhängigkeitsbewegung mit Aktionen, die aus der Anonymität heraus koordiniert wurden, etwa über die Telegram-Gruppe »Tsunami Democratíc«, die aktuell mehr als 400.000 Mitglieder hat. Jan Oliete, ein studierter Soziologe, der sich gerade bei der katalanischen Feuerwehr bewirbt, erzählt, dass er selbst an solchen Aktionen teilgenommen hat. Über Telegram habe er die Nachricht erhalten, dass die Autobahn AP-7, die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Frankreich und Spanien, blockiert werden sollte. Mit Schlafsack und Essen ausgerüstet, fuhr Oliete zum Grenzort La Jonquera. »Es war sehr kalt und windig. Und dort auf dem Boden zu schlafen, war hart.« 4.000 Menschen kamen, schätzt er. Sie errichteten Barrikaden auf der Autobahn, der Warenverkehr kam für drei Tage zum Erliegen. Oliete ist der Überzeugung, dass die Leute nun aufgewacht seien, empört. »Katalonien hat immer den pazifistischen Weg gewählt. Wir gehen demonstrieren, aber wir werfen kein Papier auf den Boden.« Vielleicht müsste man aber mal etwas Papier auf den Boden werfen oder einen Container anzünden, »wenn wir wollen, dass man uns ernst nimmt«

Wenn man fragt, warum sich Menschen für die katalanische Bewegung engagieren, erzählen sie oft von ihren Großeltern. Unter Franco war Katalanisch verboten. »Ich konnte die Schule in meiner Sprache absolvieren«, sagt Txell Bonet, »weil meine Großeltern vierzig Jahre an unserer verbotenen Sprache festgehalten haben.«

Aber es gibt auch kritische Stimmen, Daniel Miñano Valero, ein Biologielehrer, dessen Mutter aus Aragón stammt, ist zweisprachig aufgewachsen. »Ich bin, was manche Katalanisten einen ›charnego‹ nennen, ein Mischling«. In seinem Umfeld sieht er vor allem Menschen, denen jede Form von Nationalismus suspekt ist. Ihn sorgt, dass hinter den Unabhängigkeitsbestrebungen andere soziale Anliegen zurückgetreten sind und rechte Parteien bei den letzten Wahlen zugelegt haben.

Wie viele Zugeständnisse kann Regierungschef Sánchez machen, um Katalonien nicht zu verlieren?

Die Regierung Kataloniens hält an ihrem Unabhängigkeitskurs fest. Alfred Bosch ist Mitglied der Partei Esquerra Republicana Catalunya (ERC) und Außenminister der Region. Er hat Geschichte studiert, über Nelson Mandela promoviert und danach 17 Bücher geschrieben, darunter auch mehrere Romane. In seinem Büro neben der Kathedrale von Barcelona zählt er auf, was an Geschirr zwischen Katalonien und der spanischen Regierung bereits zerbrochen ist. Unter dem freundlichen Lächeln blitzt bisweilen Ratlosigkeit auf: »Etwas, was wir seit Langem in einem Dialog verhandeln wollen, wurde zumindest in den letzten zwei Jahren in das Reich der Polizeikräfte, der Gerichte und Gefängnisse verlagert.« Doch der Konflikt müsse politisch gelöst werden, nicht juristisch, fordert Bosch.

Dass Pedro Sánchez nun eine katalanische Delegation zu Gesprächen nach Madrid geladen hat, ist für Alfredo Bosch »eine bedeutende Wendung«. Sánchez mache das zwar, weil er an der Macht bleiben wolle. »Aber vielleicht wird dadurch ein Fenster geöffnet«, sagt er, ganz Realpolitiker: »Das ist keine Liebe, das ist Politik.«

Unklar ist: Wie viele Zugeständnisse kann Pedro Sánchez machen, der das wirtschaftlich starke Katalonien nicht verlieren will? Oder ist Spanien in der demokratischen Pflicht, weil so viele Katalanen auf die Straße gehen? Oder sind deren Forderungen nach einem neuen Referendum überzogen? Für Rechtsprofessor Joan Queralt ist die Sache klar: »In Spanien gibt es ein Dilemma: Hat die Verfassung Vorrang oder die Demokratie? Die Norm zählt hier mehr als wahre demokratische Prozesse.«

Der Historiker und Spanienexperte Walther Bernecker kann dagegen keine Defizite an der spanischen Demokratie feststellen: »Spanien ist von internationalen Gremien und der UN attestiert worden, ein voll ausgebauter Rechtsstaat zu sein. Solange das der Fall ist, kann man natürlich nicht gegen die Verfassung vorgehen und sagen, ja, es gibt inzwischen eine Mehrheit, die will dieses oder jenes.« Und Bernecker erinnert auch daran, dass die Unabhängigkeitsbefürworter noch nie die Mehrheit in Katalonien hatten. Bei der letzten Regionalwahlen 2017 erzielten sie 47,7 Prozent.

Bernecker kann sich dennoch vorstellen, dass Katalonien als eigener Staat bestehen könnte. Doch der Weg dahin müsse über eine Verfassungsänderung mit Madrid ermöglicht werden, nicht über Alleingänge in Barcelona.