Widerstand

„Ich hatte nichts mehr zu verlieren“

Weil er gegen die Annexion der Krim gekämpft hatte, saß der ukrainische Regisseur Oleg Senzow fünf Jahre in russischen Gefängnissen. War es das wert?

Ein seitliches Porträt von Regisseur Oleg Senzow. Er hat kurze dunkle Haare, trägt eine dunkle Zip Jacke und blickt in die Kamera.

Regisseur Oleg Senzow

Herr Senzow, lassen Sie uns am Ende beginnen: In Ihrem Film „Numbers“ wird ein Regime durch einen zivilen Widerstand gestürzt. Doch als die neue Revolutionsregierung an die Macht kommt, greift diese umso brutaler durch.

Manch einer hätte es vielleicht beim Happy End belassen und nach dem geglückten Aufstand aufgehört. Warum haben Sie sich dagegen entschieden?


Zuerst einmal wäre ein Happy End langweilig. Nein, im Ernst: Mein Film ist nicht nur eine Ode an den Widerstand, sondern auch eine Warnung, dass sich jede Revolution gegen ihre Schöpfer wenden kann. Das hat wenig mit meiner eigenen Meinung zu tun. Vielmehr ist es Teil der Weltgeschichte.

Nehmen Sie die Französische Revolution oder die Februarrevolution von 1917, bei der die Russen ihr Land mit den besten Intentionen zum Besseren wandeln wollten und am Ende trotzdem Repression und Terror erlebten.

„Numbers“ ist ein Film darüber, dass man einen politischen Widerstand – wenn man es ernst meint – mit voller Überzeugung verfolgen sollte, sich aber trotzdem stets bewusst sein muss, dass mit dem Instrument der Revolution höchste Vorsicht geboten ist.

Sie selbst wurden 2014 auf der Krim festgenommen, weil Sie sich im Untergrund gegen die russische Annexion Ihrer Heimat einsetzten. Sie wurden nach Russland überstellt, wegen konstruierter Terrorvorwürfe eingesperrt und mehrfach ins Kreuzverhör genommen und gefoltert. War Ihr Widerstand all das wert?

Meine Mitstreiter und ich waren von der Richtigkeit unserer Sache überzeugt. Uns war klar, dass wir etwas unternehmen und uns gegen den Feind stellen mussten. Alle anderen Fragen waren damals zweitrangig. Ich glaube, es ist eine sehr persönliche Sache, wie man mit Unrecht umgeht.

Ich bin, wie ich bin. Wenn auf der Straße jemand verprügelt wird, dann gibt es Leute, die sich wegdrehen, und Leute, die eingreifen. Ich gehöre zu denen, die es nicht schaffen, wegzuschauen.

Die Ungerechtigkeit gegen mein Land, die russische Übernahme der Krim, war für mich nur schwer zu ertragen. Alles andere wäre für mich Verrat gewesen.

Insgesamt verbrachten Sie fünf Jahre in verschiedenen russischen Gefangenenlagern, zuletzt in einem Straflager in Nordsibiren. Zwischenzeitlich traten Sie für 145 Tage in einen Hungerstreik. Wie haben Sie diese Zeit überstanden?

Man hat mich ja nicht vom Sofa weg verhaftet. Durch die drei Monate, in denen ich mich in der ukrainischen Untergrundbewegungung engagierte, und durch meine Zeit auf der Krim war ich natürlich in gewisser Weise darauf vorbereitet, dass etwas passieren könnte.

Außerdem hatte ich in meiner Situation nichts mehr zu verlieren. Man hätte mich schon während der Proteste auf dem Maidan in Kiew umbringen oder später auf der Krim erschießen können – und auch in jedem der russischen Gefängnisse, in denen ich danach saß, war der Tod kein unwahrscheinliches Szenario.

Wenn man genug Angst hat, dann ist man plötzlich bereit, auch die schwierigsten Dinge zu wagen.

Für Sie sind Widerstand und Kunst eng miteinander verknüpft. Inwiefern sind zivile Proteste immer auch künstlerische Aktionen?

Um das klarzustellen: Ich finde nicht, dass Proteste und politischer Widerstand etwas mit „Performance“ zu tun haben. Ich war immer jemand, der sich als Bürgerrechtler für seine Landsleute und für sein Land eingesetzt hat.

Natürlich geht es bei Protesten auch immer darum, den Effekt zu maximieren. Nicht zuletzt deshalb habe ich meinen Hungerstreik damals mit dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland abgestimmt. Es ging mir darum, mehr Aufmerksamkeit auf ukrainische Gefangene in russischen Gefängnissen zu lenken.

Das ist für mich aber noch keine Performance, sondern eine reine politische Protestaktion ohne Beiwerk. Es gibt allerdings natürlich auch Widerstandskämpfer, bei denen Kunst und Protest direkt miteinander verschmelzen.

Nehmen Sie den russischen Konzeptkünstler Pjotr Pawlenski, der 2015 die Tür zur Zentrale des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in Brand setzte, um ein Zeichen gegen den Staatsterror zu setzen. Das ist Performance. Da gibt es einen klaren Unterschied zum rein politischen Protest.

Sie haben mal über sich gesagt, Sie seien zwar Regisseur, aber „kein Typ mit Schal“, der seine Arbeit zu wichtig nimmt. Als 2013 die Euromaidan-Proteste in der Ukraine begannen, legten Sie kurzerhand alle filmischen Arbeiten nieder und wurden zum Aktivisten. Wo werden Sie als Nächstes aktiv sein?

(lacht) Das habe ich gesagt, ja. Als reiner Bürger- und Menschenrechtler verstehe ich mich aber auch nicht. Damals auf dem Maidan haben wir konkret gegen unseren Verbrecherpräsidenten Janukowitsch gekämpft, heute kämpfen wir gegen den Verbrecher Putin.

Damit werde ich nicht aufhören, solange Putin nicht die Krim und den Donbass zurückgegeben hat. Ich bin aber auch immer kreativ tätig. Seit ich wieder frei bin, sind zwei Bücher erschienen, jetzt läuft mein Film „Numbers“.

Außerdem arbeite ich gerade an dem Filmprojekt weiter, das ich 2013 mitten in den Dreharbeiten abgebrochen habe, um mich den Maidan-Protesten anzuschließen: An einem Film namens „Nashorn“.

Das Interview führten Leonie Düngefeld und Kai Schnier