Hast du die Rosen geschnitten?

Über Fragen, die mir gerade nicht gestellt werden. Ein Text aus dem Gefängnis

Ein Halbporträt von Schriftsteller Ahmet Altan. Er hat einen grauen Vollbart und eine Brille. Er schaut in die Kamera. Über einem grünen Rollkragenpullover trägt er ein schwarzes Sakko.

Journalist und Schriftsteller Ahmet Altan

In jedem Lebensabschnitt begegnet der Mensch anderen Fragen. Es beginnt mit: »Was willst du werden, wenn du groß bist?«, dann kommt: »Wie läuft es in der Schule?«, »Hast du schon einen Schatz?«, »Was und wo willst du studieren?«. Wenn der Mensch schließlich ins Erwachsenenalter kommt, hört er Fragen wie »Welche Stelle wirst du annehmen?«, »Wann wirst du heiraten?« und »Wie geht es deinen Kindern?«. Angehörige meiner Altersgruppe dagegen hören gewöhnlich eher Fragen wie »Hast du die Rosen beschnitten?«, »Wann kommen unsere Enkel?«, »Hast du dem Nachbarn gesagt, er soll den Fernseher leiser stellen?« oder »Hast du deine Tabletten genommen?«. Die häufigste unter allen Fragen, die mir gestellt werden, dürfte allerdings meinen Altersgenossen weniger oft zu Ohren kommen: »Macht es dich nicht traurig, unschuldig eingesperrt zu sein?« Diese Frage beantworte ich mit einem Satz, den ich mir bei Sokrates ausgeliehen habe: »Wäre es besser, wenn ich schuldig sitzen würde?«

Natürlich ist diese Antwort das Ergebnis einer Weltanschauung, die Bestrafung für unbedingt erforderlich hält. Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Ländern ist die Bestrafung, Inhaftierung und Tötung von Schriftstellern, Intellektuellen und Philosophen fast alltäglich. Ich bin Schriftsteller in einem solchen Land, zu einer solchen Zeit. Wie Hunderte, ja Tausende von schreibenden Menschen bin auch ich im Gefängnis. »Unschuldig« eingesperrt zu sein macht mich nicht traurig, sondern verleiht mir, im Gegenteil, zusätzliche Kraft und hilft mir dabei, jene, die mich hier gefangen halten, gering zu schätzen und dem, was ich erlebe, keine allzu große Bedeutung beizumessen.

Von Sokrates wird berichtet, dass er, mit seiner Leier in der Hand, ein neues Stück einstudierte, während der Schierlingstrank, der ihn töten sollte, zubereitet wurde. Man fragte ihn: »Wozu soll es nützen, jetzt noch ein neues Stück zu lernen?« Seine Antwort lautete: »Es nützt dazu, dass ich vor meinem Tod noch diese Melodie erlerne.« Ich glaube, man darf mit Fug und Recht annehmen, dass es das Wissen des Philosophen um das Unrecht und die Ohnmacht seiner Henker war, das ihm die Kraft für diese unerschütterliche Haltung im Angesicht des Todes verlieh.

Dann können Sie, wie Sokrates, die Leier schlagen, während Sie sich auf den Tod vorbereiten

Dieser eigenartige Widerspruch zwischen der rohen Macht Ihrer Peiniger, die ausreicht, Sie einzusperren oder gar zu töten, und der intellektuellen Dürftigkeit, die es diesen Menschen unmöglich macht, Ihren Ideen mit eigenen Vorstellungen entgegenzutreten, verleiht Ihnen, also dem »Opfer«, eine großartige Widerstandkraft und ein ebensolches Gefühl der Überlegenheit. Und dann können Sie, wie Sokrates, die Leier schlagen, während Sie sich auf den Tod vorbereiten.

In Gesellschaften, deren Anführer sich vor Gedanken fürchten, ist die Staatsführung gemeinhin im Besitz einer erschreckend rohen Gewalt und gleichzeitig einer bedauernswert dürren geistigen Ausstattung. In dem Maße, in dem die rohe Gewalt zunimmt, schwinden die intellektuellen Kräfte. Vor längerer Zeit las ich das Buch eines jungen Mannes, der intensives Bodybuilding betrieb. Die Entwicklung seiner Muskeln und die Verbrennung aller Körperfette wurden von Tag zu Tag wichtiger und führten schließlich zu einer regelrechten Sucht. Zum Schluss verfügte er über mächtige Muskeln, und sein Körper wies kaum noch ein Gramm Fett auf. Selbst die Fettschicht unter seinen Fußsohlen, die für ein sicheres Auftreten unabdingbar ist, war dahingeschmolzen. Mit dem Ergebnis, dass bereits ein leichtes Anstoßen genügte, um diesen überaus kräftigen, mit fantastischen Muskeln ausgestatteten Mann zu Fall zu bringen.

Ich denke, dass jede politische Führung, die darauf aus ist, ihre gesamte Volksgemeinschaft unter ihre Kontrolle zu bringen, keinerlei oppositionelle Stimme gelten zu lassen, jeden Gedanken zu ersticken und die Gerichtsbarkeit wie einen Polizeiknüppel zu benutzen, ihre Fußsohlen vernachlässigt und, wie jener körperbesessene junge Mann, die Fettschicht darunter zum Schmelzen bringt, während sie ihre Muskeln aufbaut. Am Ende, zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich selbst am stärksten wähnt und auch ein Bild dieser Stärke abgibt, wird es diese größte Schwäche sein, die sie mit einem einzigen Stoß zu Fall bringen wird.

Das Wissen um all diese Dinge stärkt die Fähigkeit der Menschen zum Widerstand. »Ich besitze keine angsteinflößenden Muskeln«, sagen sie sich, »aber ich stehe auf soliden Fußsohlen, und niemand kann mich umwerfen.«

Meine Freunde haben mich für diesen vierten Geburtstag im Gefängnis und für das, was ich hier erleben muss, bedauert

Vor Kurzem habe ich mein siebzigstes Lebensjahr vollendet. Meine Freunde haben mich für diesen vierten Geburtstag im Gefängnis und für das, was ich hier erleben muss, bedauert. Ich bat sie, sich nicht um mich zu sorgen. »Ich bin jetzt siebzig«, sagte ich ihnen. »Ich bin im Gefängnis und habe einen neuen Roman beendet. Eine so verbrachte Siebzig-Jahr-Feier ist um einiges unterhaltsamer, als Rosen zu beschneiden.«

Und so denke ich wirklich. Im Angesicht der intellektuellen Hilflosigkeit und Dürftigkeit derer, die mich hier einsperren, macht es mir nichts aus, im Gefängnis zu sein.

Wenn es mit mir so weiter geht, werde ich sterben, bevor ich auch nur die Chance hatte alt zu werden

Alt zu sein bedeutet, dass der Mensch vom Leben nichts mehr erwartet. Dass sich nichts mehr bewegt. Wenn es mit mir so weiter geht, werde ich sterben, bevor ich auch nur die Chance hatte alt zu werden. Mein Leben ist mit Bewegung und Erwartung angefüllt. Die Erwartung verschaffe ich mir selbst durch mein Schreiben; für die Bewegung sorgen jene, die mich hier festhalten. Sich über solche siebzig Jahre zu beschweren, halte ich, ehrlich gesagt, für unangebracht.

Ganz vollkommen würde das Vergnügen allerdings erst, wenn ich auch noch die Leier schlagen könnte.

Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen