Büffeln für den Abschied

Immer mehr junge Menschen in der Republik Moldau träumen von einer Zukunft fernab ihrer Heimat

In einer Sprachschule im Zentrum von Chișinău warten sieben Schüler auf den Unterrichtsbeginn. Ein schlanker Mann im T-Shirt kommt herein und begrüßt die Klasse, auf deutsch. Der Lehrer heißt Gerhard Ohrband und kommt aus Hamburg. Heute wird er Deutschunterricht auf Rumänisch geben, Niveau A 2.

In der vordersten Reihe sitzt Johann, der schon seit Monaten in Ohrbands Deutschkurs Vokabeln paukt. Er ist 17 Jahre alt und weiß genau, was er will: einen Job in Deutschland. Die Entscheidung, Moldau zu verlassen, hat er vor Langem gemeinsam mit seiner Familie getroffen. Viele Eltern bereiten ihre Kinder schon früh auf eine Zukunft im Ausland vor. Johann war selbst noch nie in Deutschland. Das Land steht für ihn vor allem für Stabilität und eine starke Wirtschaft. Die Finanzwelt hat es ihm angetan: "Eines Tages möchte ich als Trader an der Börse arbeiten", sagt er.

Da ein Großteil der Moldauer fließend Russisch spricht, zieht es viele als Arbeitsmigranten nach Russland oder in andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion. In den letzten Jahren nimmt aber auch die Migration ins europäische Ausland zu. Während der Beitrittsdialog Moldaus mit der EU seit Jahren auf der Stelle tritt, begeben sich viele junge Menschen auf eigene Faust nach Europa. Moldauische Staatsbürger haben ein Anrecht auf einen rumänischen Reisepass, wenn sie nachweislich rumänische Vorfahren haben. Und da für das EU-Mitglied Rumänien die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, sind die rumänischen Dokumente sehr begehrt. Die Wartezeiten sind lang, es sei denn, man hilft mit Bestechung nach. Die Emigration mit rumänischen Dokumenten wird von den Behörden jedoch nicht registriert. Entsprechend unterschiedlich fallen die Schätzungen über die Anzahl moldauischer Staatsbürger im Ausland aus. Die meisten Quellen, etwa die Migrationsstatistik der UN, sprechen von einer Million Menschen – gemessen an einer Bevölkerung von 3,5 Millionen.

Durch die Auswanderung wachsen viele Kinder in Moldau ohne Eltern auf

Die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften trifft Moldaus Wirtschaft hart. Laut Veaceslav Berbeca vom Think Tank IDIS Viitorul schreckt das massiv Investoren ab: "Weil es sich herumgesprochen hat, dass es in Moldau nur noch wenige qualifizierte Arbeitskräfte gibt, siedeln sich trotz des geringen Lohnniveaus kaum noch ausländische Firmen an." Mittlerweile ist die Volkswirtschaft abhängig von der Emigration: Rücküberweisungen machen rund zwanzig Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts aus.

Daran hat auch die instabile politische Situation ihren Anteil. Nach dem offiziellen Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 2010 gab es unzählige Regierungs- und Kurswechsel. Inzwischen beschreiben Politikwissenschaftler Moldau als "captured state", einen durch Interessengruppen vereinnahmten Staat. Ende 2014 verschwand innerhalb kurzer Zeit mehr als eine Milliarde Dollar aus dem Finanzsystem des Staates, der Fall machte als "Jahrhundertraub" Schlagzeilen. Die Demokratische Partei vertritt ausschließlich die Interessen des Oligarchen Vladimir Plahotniuc. Erst kürzlich scheiterte das Regierungsbündnis unter Ministerpräsidentin Maia Sandu durch ein Misstrauensvotum.

Im Human Development Index von 2019 belegt Moldau den 107. Platz von 189 Staaten. Besonders die Landbevölkerung in Moldau ist bitterarm. 44 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Insbesondere der seit 1992 eingefrorene Konflikt mit der abtrünnigen Region Transnistrien steht einer weiteren Annäherung mit der Europäischen Union entgegen. Die Auswanderung sorgt dafür, dass viele Kinder in Moldau ohne Eltern aufwachsen. Regelmäßig bringen Minibusse Geschenke der Auswanderer in die Dörfer.

Gerhard Ohrband beendet den Unterricht. Im Foyer wartet Domenic, ebenfalls Lehrer an der Sprachschule. Er schätzt, 95 Prozent seiner Schüler wollen auswandern. Seine Rolle als Lehrer sieht er kritisch: "Ich weiß, dass ich Moldau Schaden zufüge, mit dem, was ich mache." Dennoch: Bei ihm überwiege die Freude, dass seine Schülerinnen und Schüler mithilfe der neuen Sprache die Chance haben, ihren individuellen Weg zu gehen.