„Wir sind an Bord der Titanic“
Wachstum wird am Ende unseren Untergang bedeuten, meint der Umweltökonom Federico Demaria
Herr Demaria, Sie fordern von der Europäischen Union seit geraumer Zeit den Bruch mit dem traditionellen Wachstumsmodell und eine Debatte über alternative Entwicklungsstrategien. Zuletzt sprachen Sie dafür sogar vor Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Was stört Sie an der Wirtschaftspolitik der EU?
Mich stört vor allem, dass die EU den Menschen seit Jahrzehnten einredet, dass die wachstumsbasierte Wirtschaft das Allheilmittel für unsere Sorgen ist – für Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende Nachhaltigkeit.
Und dem widersprechen Sie ...
... entschieden! Es ist doch so: Tatsächlich hat das Wachstumsdogma die Probleme der Menschheit in der jüngeren Vergangenheit nur noch weiter befeuert. Nehmen wir das Beispiel Arbeitslosigkeit: Die Befürworter des Wachstumsmodells behaupten gerne, dass Wachstum für mehr Arbeitsplätze sorgt und damit der Armut und der Ungleichheit entgegenwirkt. Gegenwärtig lässt sich in den USA und Europa jedoch ein anderes Phänomen beobachten: Die Wirtschaft wächst, aber es gibt nur wenige neue Stellen. Und wenn wirklich Arbeitsplätze geschaffen werden, dann handelt es sich dabei um schlecht bezahlte Jobs unter prekärsten Bedingungen. Das Einzige, was steigt, ist die Zahl der Geringverdiener und der Zeitarbeiter – und die Ungleichheit. Denn nur die Spitzenverdiener profitieren vom Wachstum.
Trotzdem hat die Expansion der Weltwirtschaft in den vergangenen 25 Jahren zu einer Verringerung der globalen Armut geführt. Oder würden Sie das bestreiten?
Nein, würde ich nicht, auch wenn man die entsprechenden Statistiken der Weltbank durchaus kritisch sehen darf. Die Frage bleibt jedoch: Ist das Wachstumsmodell die Antwort auf die Fragen unserer Zeit? Ich meine, dass man daran große Zweifel haben muss. Der bereits genannte Aspekt der steigenden Ungleichheit ist dabei nur ein Argument. Ein zweiter Punkt ist die Nachhaltigkeit, die mir als Umweltökonom besonders am Herzen liegt. Ich frage Sie: Kann ein System, das auf Wachstum basiert, nachhaltig sein?
Würde ich aufseiten der Wachstumsbefürworter stehen, wäre meine Antwort wahrscheinlich: Ja, wenn es gleichzeitig effektiver wird ...
... und theoretisch wäre das richtig. In der Praxis lassen sich Wachstum und Nachhaltigkeit aber bisher nicht miteinander in Einklang bringen. Wenn eine Wirtschaft wächst, dann verbraucht sie zwangsläufig mehr fossile Brennstoffe und mehr Beton, mehr Holz, mehr Stahl. Sie wird dabei mit der Zeit vielleicht auch etwas effektiver, das heißt, sie wendet für ein Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts weniger Energie und weniger Rohstoffe auf als zuvor. Unter dem Strich zählen aber nicht die relativen, sondern die absoluten Verbrauchszahlen – und die steigen stetig. Von Nachhaltigkeit keine Spur. Und wo wir gerade schon beim Thema sind: Auch das Wachstum selbst ist alles andere als nachhaltig. In den vergangenen Jahren haben wir es uns in Europa etwa geradezu erschwindeln müssen.
Inwiefern?
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat eine Geldpolitik der quantitativen Lockerung betrieben. Sie hat Anleihen verschuldeter Staaten angekauft, um das Wirtschaftswachstum im Euro-Währungsgebiet zu stabilisieren. Erst jetzt, wo diese Maßnahmen langsam zurückgefahren werden, wird man sehen, wie stabil die europäische Wirtschaft wirklich ist.
Inwiefern würde die, nennen wir sie „Postwachstumsökonomie“, die Sie fordern, es denn besser machen?
Am Anfang stünde zuerst einmal die heilsame Einsicht, dass wir mit der religiösen Verehrung des Wirtschaftswachstums aufhören müssen – denn nichts anderes als eine Art religiöser Fanatismus ist es ja, wenn wir weiterhin fest an etwas glauben, das nicht mal ansatzweise so gut funktioniert, wie wir meinen. Wenn es etwa das Ziel der EU ist, die Ungleichheit zu verringern und eine nachhaltige Wirtschaft zu fördern, warum steht dann immer das Wachstum oben auf der Agenda und nicht die Themen selbst? Das ist ein völlig unnötiger Umweg! In einer Postwachstumsökonomie hätten die wichtigen Themen den Vorrang – und es gäbe kreativere Lösungsansätze für unsere Probleme.
Wie würden diese im Detail aussehen?
Nehmen wir wieder das Beispiel des Arbeitsmarkts: Statt hier ständig das Mantra der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch nationales und globales Wachstum zu beten, wäre es etwa viel sinnvoller, Konzepte wie die Arbeitszeitverringerung und die Arbeitsteilung zu fördern. Arbeitnehmer würden nicht mehr fünfzig Stunden die Woche arbeiten und damit den Weg für neue Teilzeitstellen ebnen. Die Arbeitszeiten würden gesenkt und mehr Menschen hätten einen Job. Dazu sollte man sich zusätzlich nicht nur mit Ideen wie dem Bedingungslosen Grundeinkommen auseinandersetzen, sondern auch mit Gehaltsobergrenzen. In den Vereinigten Staaten war es in den 1950er-Jahren beispielsweise so, dass Spitzenverdiener – also diejenigen mit einem Jahreseinkommen von mehr als einer Million US-Dollar – mitunter mit einer Einkommenssteuer von neunzig Prozent rechnen mussten.
Von Wirtschaftsliberalen würde Ihre Vision einer Postwachstumsökonomie wohl spätestens an diesem Punkt als sozialistische Utopie abgetan ...
Damit muss ich leben. Die Neoliberalen, wie Emmanuel Macron in Frankreich, und die rechten Bewegungen in Ungarn und anderswo eint, dass sie keine wirtschaftspolitischen Alternativmodelle zum Status quo dulden. Da beginnt die Aufgabe von Ökonomen wie mir. Wir müssen es schaffen, realistische Gegenentwürfe zu entwickeln. Und wenn diese Gegenentwürfe ohne Wachstum auskommen sollen, dann ist auch klar, dass sie andere Triebkräfte brauchen. Ich wäre niemals so blind zu behaupten, dass automatisch alles gut wird, wenn wir es nur schaffen, das Wachstumsdogma zu überwinden. Nein, auch die Umverteilung von Reichtum wird in Zukunft eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, Ökonomien anzukurbeln.
Werden Sie die Verantwortlichen in Brüssel von solchen Vorhaben überzeugen können?
Ich glaube, dass man viel weniger Überzeugungsarbeit leisten muss, als gemeinhin angenommen wird. Im Herbst des vergangenen Jahres habe ich an einer Konferenz zum Thema Postwachstum teilgenommen, die von Mitgliedern des Europäischen Parlaments organisiert wurde. Hinter verschlossenen Türen sagte dabei ein Vertreter von ECOFIN, dem europäischen Rat für Wirtschaft und Finanzen, zu mir und meinen Kollegen: „Wisst Ihr, wir sind nicht doof. Jeder weiß, dass Wirtschaftswachstum allein uns nicht retten wird. Aber niemand weiß, wie man den Kurs wechselt!“ In gewisser Weise sind wir also alle an Bord der Titanic. Wir sehen, dass wir auf Kollisionskurs sind, aber es scheint fast unmöglich, noch rechtzeitig eine Richtungsänderung vorzunehmen.
Sind Sie der Überzeugung, dass wir die Kurve noch kriegen?
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich beschäftige mich jetzt seit rund zwanzig Jahren mit dem Thema Postwachstum und die öffentliche Debatte hat sich seither stark zum Positiven verändert. Ich weiß zwar nicht, ob ich das endgültige Umdenken in der Wirtschaftspolitik noch persönlich miterleben werde, aber wenigstens möchte ich meinen Kindern irgendwann sagen können: Ich habe versucht, das System zu verändern.
ein Interview von Kai Schnier