Schuld

Wieder aufstehen

Nach dem Völkermord von 1994 existierte in Ruanda keine Gemeinschaft mehr. Wie wir langsam lernten, wieder miteinander zu leben

1994 war ich 19 Jahre alt und habe die Katastrophe selbst erlebt. Mein Vater ist ein Hutu, meine Mutter eine Tutsi. Meine Familie mütterlicherseits wurde beinahe vollständig ausgelöscht bei dem Völkermord, der sich vor allem gegen Tutsi richtete. Darum war mir klar, dass ich meinen Teil tun musste, um sicherzustellen, dass so etwas Schlimmes nie wieder geschehen kann. Es ist meine Pflicht als Überlebender. Der Genozid hat  mich zu einem Friedensspezialisten gemacht.

Wir Ruander sind eine traumatisierte Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass man sich niemals von einem Trauma erholen kann, wenn man sich nicht damit auseinandersetzt, was passiert ist. Für den Heilungsprozess müssen Täter und Opfer der Wahrheit ins Gesicht sehen. 1994 lag das Land faktisch am Boden – politisch, wirtschaftlich und sozial. Die Gerichte waren völlig überfordert von der Situation: Über zwei Millionen Menschen mussten verurteilt werden. Das war beinahe die Hälfte der Bevölkerung.

Uns Friedensfachkräften ging es damals zuallererst darum, den Menschen dabei zu helfen, aufzustehen. Mit „aufstehen“ meine ich, widerständig zu sein, die Situation ehrlich zu betrachten und das Beste daraus zu machen. Natürlich war das sehr schwierig. Noch kurz zuvor war kein Tag vergangen, ohne dass man Leichen auf der Straße sah. Den meisten stand in dieser Situation nicht gerade der Sinn danach, über Frieden oder Versöhnung zu sprechen. Aber für uns barg die Situation auch eine Chance: Alle brauchten etwas zu essen, Unterkunft und Hilfe, um zu überleben. Darum haben wir begonnen, zunächst diese Grundprobleme anzugehen. Wir regten die Menschen an, Nachbarschaftsgruppen zu bilden, gemeinsam auf dem Feld zu arbeiten, Werkzeuge zu teilen, auch wenn das bedeutete, dass ein Überlebender mit Verwandten eines Täters zusammenarbeitete.

In Ruanda sind die Leute es nicht gewohnt, über ihre Trauer, über Gefühle und Probleme zu sprechen. Viele denken, das sei eine Schwäche. Dabei ist es der Schlüssel zur Verarbeitung! In meiner Arbeit versuche ich darum, zunächst eine sichere Umgebung zu schaffen, in der sich die Menschen wohlfühlen. Wir bilden Gruppen von  zwanzig Menschen, zehn Täter und zehn Opfer. Erst geht es darum zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Täter sprechen mit Tätern, Opfer mit Opfern. Mit therapeutischer Hilfe reflektieren sie, welche Auswirkungen die Taten auf die Gegenwart haben, etwa fehlendes Vertrauen: Wenn der eigene Nachbar Verwandte getötet hat, ist es verständlich, dass man ihm nicht vertraut. Viele Überlebende sind sehr verunsichert und denken: „Diese Leute kamen eines Morgens und haben uns umgebracht! Wie kann ich sicher sein, dass sie das nicht wieder tun?“ Verlorenes Vertrauen kommt nicht einfach über Nacht zurück. Es braucht Zeit.

Darum bedeutet der nächste Schritt, mit der jeweils anderen Gruppe ins Gespräch zu kommen, die Probleme ehrlich anzusprechen und einen gemeinsamen Plan für die Zukunft zu entwickeln. Diese Phase ist die komplizierteste, aber auch diejenige, die am meisten Fortschritt bringt. Denn solange die Gräuel der Vergangenheit tief im Herzen verborgen bleiben, bedeutet das, dass sie noch stärker sind als man selbst. Erst, wenn man die Verbrechen aussprechen kann, diejenigen, die man begangen hat, genauso wie diejenigen, die einem angetan wurden, verliert die Vergangenheit ihre Macht.

In diesem Jahr begehen wir den 25. Jahrestag des Völkermords. Unsere Kinder wurden nach dem Genozid geboren, aber sie wuchsen in einem sehr schwierigen Umfeld auf. Für ihre Zukunft müssen wir ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit vermitteln.

protokolliert von Gundula Haage